Wo sind die 200.000 geblieben?

■ Starker „Übersiedler“-Zustrom gemeldet/ Das Statistische Bundesamt weiß nicht, wie viele Personen seit dem 1. Juli von Ost- nach Westdeutschland kamen

Berlin (taz) — Zwischen März und Oktober dieses Jahres sollen 200.000 BürgerInnen über 18 Jahre aus dem Gebiet der ehemaligen DDR ins Gebiet der Bundesrepublik übergesiedelt sein. Das berichtet die Bielefelder 'Neue Westfälische‘ unter Berufung auf Unterlagen des Statistischen Bundesamtes.

SPD-Fraktionschef Wilfried Penner äußerte zu diesen Zahlen, daß viele Menschen zunächst in ihrer Heimat geblieben seien, weil sie erwarteten, daß sich die wirtschaftliche Lage bessern würde. Diejenigen „die auf den gepackten Koffern abgewartet haben, machen sich jetzt auf den Weg“, sagte der SPD-Politiker.

Offiziell registrierte das Bundesinnenministerium Übersiedler bis zum 1. Juli, dem Stichtag für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Demzufolge kamen im März, April, Mai und Juni insgesamt etwa 85.000 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik, ihre Zahl nahm von 37.000 (März) auf ca. 7.900 (Juni) stetig ab. Wenn es tatsächlich seit März 200.000 Wahlberechtige mehr aus der Ex-DDR in Westdeutschland geben sollte, würde das einen drastischen Anstieg der „Übersiedler“- Zahlen“ seit dem 1. Juli bedeuten, in einer Größenordnung von weit über 100.000.

Ein Mitarbeiter des Wahlleiters beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden erklärte auf Anfrage, daß ihm die Zahlen unbekannt seien. Aus 200.000 weniger gemeldeten Wahlberechtigten in der DDR seit den dortigen Märzwahlen könne nicht einfach geschlossen werden, daß diese mittlerweile in den Westen Deutschlands gezogen seien. Eine solche Überlegung lag offensichtlich der angenommenen Zahl von mindestens 200.000 Übersiedlern im letzten halben Jahr zugrunde.

Die 200.000 Wahlberechtigten in der einstigen DDR könnten auch aus anderen Gründen „verschwunden“ sein. Der Mitarbeiter des Bundesamtes nannte zum Beispiel die Auflösung von alten Wahlbezirken. Außerdem sei eine abweichende Zahl von Wahlberechtigten zwischen den Volkskammer- und den jüngsten Landtagswahlen, ähnlich wie in der Bundesrepublik, denkbar.

Einen Überblick, wie viele Menschen seit Juli aus der ehemaligen DDR nach Westdeutschland gezogen sind, hat das Statistische Bundesamt nicht. asw