Tausend Töpfe

Am vergangenen Wochenende bekamen wir ABC-Schützen aus Babelsberg eine kleine Einführung ins Dickicht bundesrepublikanischer Filmförderung  ■ Von Dietmar Hochmuth

In einem schönen deutschen Märchen heißt es über einen Holzfäller: Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das täglich Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bette Gedanken macht und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: „Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?“ „Weißt du was, Mann“, antwortete die Frau, und die Not hatte ihr Herz hart gemacht, denn sie wußte nicht aus noch ein, „wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist: Da machen wir ihnen einen Feuer und geben jedem noch ein Stück Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.“

So etwa ergeht es den DDR-Filmemachern, die über Nacht aus der hermetischen Obhut ihrer Holzfäller entlassen wurden, und damit sie nicht gänzlich gottverlassen im Wald stehenbleiben, womöglich im Regen, veranstaltete der Film Fonds Hamburg geradzu rührig-umsorgend eine erste Alphabetisierungskur, die „Gäste aus den neuen Bundesländern“ (Senatsdeutsch) oder auch „die angereisten Schwager und Schwägerinnen“ (Hark Bohm) aus dem plötzlichen Dunkel ins Dickicht bundesrepublikanischer Filmförderung mit all deren Licht- und Schattenseiten einführen sollte. Gekommen waren etwa zwanzig RegisseurAutorProduktionsleiterInnen, die sich im Literaturhaus am Schwanenwick sozusagen kollektiv auf ein großes Ledersofa legten, ihr Herz ausschütteten, um es zu weiten für neue Hoffnungen — denn „es muß ja weitergehen...“

Pech ist nur, daß dieser Termin stattfinden mußte zu einer Zeit, da das Modell bundesrepublikanischer Filmförderung in Absicht, Methode und Resultat auf so drastische Weise auseinanderklafft, daß es, aus nächster Nähe betrachtet, nicht so richtig einlädt zum Tanz, ja auch ausläuft — zumal bislang wohl nicht klar ist, ob sich die tausend Töpfe unter Berücksichtigung der vermehrten Antragsteller auch irgendwie proportional mehr füllen werden. Trotzdem war es natürlich ein dankenswertes Unternehmen, das die meisten so gut wie an den (Neu)Anfang ihrer Laufbahnen geworfenen „Seminaristen“ im Eilverfahren mit einem halbwegs praktikablen Grundwissen, auch mit Hoffnung auf Aussichten erfüllen wollte, und so ging es vor allem um die Veranschaulichung eines neuen Vokabulars (Produktion, Förderung, Vertrieb, Finanzierung, Vermarktung, Copyright, Künstlersozialkasse, Kaffeepause — nein, das war vorher klar; Media 92, Eurimage, Eurocoops usw.), Kalenders und Adressbuchs (FFAFSKARDZDFEFDOetc.), so daß die eifrigen Zuhörer nur so mit den Ohren schlackerten, bis mich Dieter Kosslick (der Geschäftsführer vom Film Fonds Hamburg) fragte, warum ich so ein trauriges Gesicht mache..., das auch das Kommunikationsangebot mit reichlich Speis' und Trank, also eher wie es Hänsel bei der Hexe im Käfig erging, nicht so recht zu entzerren vermochte.

Nachts im Hotel fügte sich das von etlichen Kennern der Materie (Junkersdorf, Bohm: „Vor Ihnen sitzt die lebende Misere des deutschen Films!“, Haase, Teichert u.a.) Vorgetragene zu einem hoffentlich vielfach förderungswürdigen Alptraum, aus dem ich, angstschweißgebadet, glücklicherweise wieder aufwachte, „denn wenn Ihr einen Gremienzuschlag, z.B. in Hamburg, habt, geht's erst richtig los mit der Kollekte — durchs weite Land der Länder...“ Ich also: Nina wohnt (und arbeitet nicht) in Hamburg, hat seit langem einen Freund in Frankfurt, wo sie aber nicht recht hinziehen will, denn der kommt irgendwie nicht los von Tofik, seinem Verflossenen aus Kreuzberg. Da wird ihr der R5 gestohlen, schließlich in eine dunkle Sache hineingezogen, und das Auto taucht wieder auf in der Fahndungskartei von Saarbrücken, wo es nämlich seit ewigen Zeiten auf den Namen der ahnungslosen Eltern angemeldet ist. Also trampt Nina nach Hause, bleibt unterwegs in der Pfalz hängen, genauer auf dem kuscheligen Beifahrersitz eines Funktelefons aus Stuttgart, und sie heben gemeinsam ab — nach Dresden, der Hauptstadt des (späthen) Bruder — nein, jetzt heißt es ja Schwesterland... Wie gesagt, weiter kam ich nicht, aber immerhin: Hamburg, Berlin, Saarbrücken, Mainz, Stuttgart und das „Beitrittsgebiet“ kommen als Förderbriefkästen schon mal zusammen, außerdem gibt es noch die Bundesadresse und den Multiplikationsfaktor 2, nämlich wirtschaftliche und kulturelle Filmförderung. Und da ist ja noch das Fernsehen...

Insgesamt über 100 Millionen jährlich, die aber demokratisch so dividiert werden, daß es am Ende relativ wenig Mittel an viele einzelne Filme sind, für die im vergangenen Monat bundesweit nur 150.000 Kinokarten von zehn Millionen verkauft wurden, so daß die nicht gerade hochgehandelten Filmemacher mittlerweile die Verbindlichkeit und Wirksamkeit von Kleinstgaleristen erreicht haben. Mit dem Unterschied allerdings, daß diese immer noch Geschäftsleute sind, ihr Job, wie es wohl heißt, sich rechnen muß, während beim Film der Dualismus von Kunst und Ware so großzügig gehandhabt wird, daß sich die Versammlung von 20.000 Zuschauern schon als Erfolg definieren kann. Das freilich entläßt die Macher aus dem eigentlichen Überlebenszwang ihrer Kunst, aus der Beweisnot ihrer Existenzberechtigung, und die Kinokarte 20tausendfach verkauft, bringt die mit der Kollekte zusammengetragenen Produktionskosten in die Nähe von Opernsubventionen: macht bei drei Millionen Budget 150 Mark pro Platz minus zehn Mark für die Eintrittskarte.

Aber Spaß beiseite: Ein handfestes Ärgernis machte am Rande der Filmtage die Runde. Es sprach sich nämlich herum, daß es am 15. Oktober beim Bundesinnenministerium einen Sondertermin für die Einreichung von Filmprojekten aus dem „Beitrittsgebiet“ gab, von dem kaum jemand etwas gewußt hatte. Dessen Filmbeauftragter, Dr. Wolfgang Gersch, hatte die Studios rechtzeitig aufgefordert, den Termin (die taz hatte ihn kurz vor Einsendeschluß gemeldet) unter den Mitarbeitern publik zu machen, was im Falle des einstigen Defa-Spielfilmstudios nur bedingt geschah. Bedingt insofern, als die vier traditionellen Dramaturgengruppen (Roter Kreis, Babelsberg, Johannisthal, Berlin) wie zur traditionellen Planrunde angewiesen wurden, je zwei Stoffe über Nacht einreichfähig zu machen, 17fach abzuschreiben, zu binden usw. ...

Nun ist ein Filmstudio bekanntlich kein Ort der Geheimhaltung, und so kam es, daß einige „freie“, nicht gruppengebundene Regisseure von dem Termin erfuhren und noch „ihrs“ hinzutun durften. Bis am 15. ein Wägelchen aus Babelsberg zum Bundesarchiv nach Koblenz, der Lieferadresse, tuckerte und dort die fristgerechte Einreichung zelebrieren konnte.

Für die Nutznießer der alten Nächstenliebe der Defa-Direktion heißt dieses Unterfangen Anschubfinanzierung, die Reise nach Koblenz gar Akquisition (da hat man die Lektion in neudeutsch aber nicht ganz richtig gelernt — Einholung von Fördermitteln und Auftragsbeschaffung sind keineswegs das gleiche). Draußen geblieben (ob absichtlich oder, wie es hieß, in Ermangelung von Portogeldern) und de facto in Unkenntnis gelassen sind die nicht wenigen übrigen „Filmschaffenden“, denen in computergeschriebenen Kündigungen für „Ihr langjähriges künstlerisches Wirken in der Filmproduktion“ gedankt wird, denn „auch Ihr Arbeitsplatz wird künftig nicht mehr existent sein“, unterschrieben von der Personalleiterin (vormals Direktor für Kader und Bildung), die — wenigstens letzte Woche noch — vom Dienst suspendiert war (wieviele neue Worte wir aber auch lernen müssen!), bis sie sich des gängigsten Verdachts dieser Tage erfolgreich erwehrt hatte.

Das Ärgerliche an der Geheimniskrämerei, und da sind wir wieder am Anfang, im Wald und in Hamburg, ist, daß die einen in ihren Überlegungen, neue Filme anzuschieben, seit Sommer eher gebremst werden und die anderen unter dem Dach eines immerhin riesigen Studios mit allerhand Einlage und Bürgschaften (Atelierkapazität, Funden, schließlich seinem Grund und Boden) ihre Projekte einreichen konnten zur Ausschüttung eines Sondertopfs (Inhalt 3,5 Millionen), der nicht etwa von der gesamtdeutschen Filmförderung abgezwackt wurde — na, und welches Gremium wird sich da zwischen 3. Oktober und 2. Dezember schon kleinlich zeigen?

Wolfgang Gersch, der Filmbeauftragte der Außenstelle Beitrittsgebiet, ist sauer und spricht in diesem Zusammenhang von verzerrtem Wettbewerb. Er will sich dafür verwenden, daß der Briefkasten in Koblenz nach Informationen „an alle“ noch einmal geöffnet wird, was ihm in Rücksprache mit Bonn noch nicht gelungen ist, denn „es war alles schon so schön eingetütet, und die anderen können sich ja zum 1. November am nächsten turnusmäßigen gesamtdeutschen Termin beteiligen, wo wir doch jetzt alle eins sind...“

Enden will ich aber optimistisch — also: Dieter Kosslik, Direktor des Filmfonds Hamburg, an dem ein intelligenter Entertainer verlorengegangen ist, wie ihn das real existierende Deutsche Fernsehen bislang nicht kannte, schloß die Hamburger Filmtage mit einer Erinnerung an jüngste Vergangenheit: an die Nacht vom 3. zum 4. dieses Monats, als er nachts um halb drei einen Anruf bekam, der ihn aus dem Schlaf riß. Am Hörer war der aufgeregte Verleiher/Autor und, wer ihn kennt, bei öffentlichen Debatten niezufriedene Laurens Straub, „eigentlich Holländer“. Der verwies aus Live-Bilder im Fernsehen und drohte mit Auswanderung, denn: „sie zoomen schon wieder wie die Riefenstahl!!!“ So entließ Kosslick seine Gäste, Lektoren wie Hörer, mit der Aufforderung, dafür zu sorgen, daß künftig solchen Drohungen der Nährboden entzogen wird.

Der Autor lebt als Filmemacher in Berlin-Mitte. Seine beiden Defa- Filme: „In einem Atem“ und „Motivsuche“.