Von Autobesitzern und anderen Menschen

In der Sowjetunion hat der Zustand des Verkehrssystems Konsequenzen: jährlich fast 50.000 Unfallopfer und Hungersnot  ■ Von Erhard Stölting

47.000 Menschen wurden 1988 in der Sowjetunion bei Autounfällen getötet — fast ebenso viele wie in den USA, allerdings mit einem wesentlich geringeren Aufwand. Denn nur 44 Autos kamen 1988 auf 1.000 Sowjetbürger. Wenigstens hier zeigte das sowjetische System eine höhere Effektivität. Die verhältnismäßig wenigen PKWs traten überdies als Umweltzerstörer im Vergleich zu anderen Faktoren zurück. Durch Anstrengungen in anderen Bereichen konnte dieser Rückstand jedoch kompensiert werden. In der Naturvernichtung hat die Sowjetunion, wie die anderen ehemals sozialistischen Länder, Weltniveau.

Die relativ hohe Zahl von Verkehrstoten resultiert nicht nur aus den notorisch schlechten Straßen, technischen Mängeln und den Anstrengungen vieler Autofahrer, die Alkoholvorräte des Landes zu reduzieren. In dieser Zahl zeigt sich auch ein Qualitätsgefälle zwischen Autobesitzern und anderen Menschen. Stärker als in den westlichen Industrieländern, wo sich der Autobesitz demokratisierte, stimmt in der Sowjetunion die Qualität des Wagens noch mit der des Menschen überein. Wer fährt, ist besser als die anderen, wer gefahren wird, gehört zur Crème. Je höher der Rang, desto mörderischer das Tempo; es bedarf keines Dieners mehr, der seinem Herrn den Weg freipeitscht.

In der Sowjetunion dominieren noch weitgehend die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor allem die Eisenbahn ist Teil der literarischen, politischen und wirtschaftlichen Geschichte Rußlands. Wie in Westeuropa hatte der Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert begonnen. Die Wagen der ersten 1867 zwischen St. Petersburg und Zarskoje Selo eröffneten Strecke wurden an Wochentagen mit Pferden, am Wochenende bereits mit Lokomotiven gezogen. 1851 wurde die 655 km lange Strecke zwischen St. Petersburg und Moskau eröffnet. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatte Rußland mit 72.000 km das nach den USA längste Eisenbahnnetz der Welt. 1916 wurde die 8.000 km lange transsibirische Eisenbahn fertig.

Stärker als anderswo folgte der Aufbau des russischen Eisenbahnwesens einem rationalen Muster. Der Transport auf den großen Flüssen wurde nicht als Konkurrenz der Eisenbahn gesehen, beide Verkehrssysteme bildeten ein einheitliches Netz. Hauptzentrum dieses Verkehrsnetzes war Moskau, von dem aus Eisenbahnlinien sternförmig das ganze Reich erschlossen.

Der Eisenbahnbau hatte wie in den anderen Ländern v. a. wirtschaftliche und militärische Motive und war Motor der schwerindustriellen Entwicklung. Mit dem Eisenbahnbau und der Schwerindustrie war zugleich eine sozialistische Arbeiterschaft herangewachsen. Noch während des Bürgerkrieges waren die Eisenbahnarbeiter überall im Reich die revolutionäre Hefe. Soweit dieses Potential nicht im Bürgerkrieg aufgerieben wurde, machte ihm später Stalin den Garaus.

Der Bau der großen Verkehrswege ging seit dem Industrialisierungsprogramm Stalins ab 1929 weiter. Daß der Ausbau fast die Zuwachsraten der vorrevolutionären Zeiten erreichte, lag diesmal nicht an französischem Kapital, sondern an den unbeschränkt verfügbaren Sträflingen. Wie die ganze Ökonomie wurden einige nicht immer gewinnträchtige, aber eindrucksvolle Ziele unter riesiger Verschwendung an Menschenleben und Ressourcen erreicht.

Sie dienten dann vor allem der politischen Selbstdarstellung und sollten Einheimische und Fremde von der Überlegenheit des Sozialismus überzeugen. Ein Symbol dafür wurde die Moskauer Untergrundbahn. Aber noch die unter Breshnew fertiggestellte Bajkal-Amur-Magistrale (BAM) zählt zu diesen Großprojekten. Die übrige Infrastruktur wurde bis zum Zusammenbruch genutzt. Erneuerungen und Modernisierungen fanden nur in der ökonomischen Fachliteratur statt.

Der desolate Zustand des Verkehrswesens tritt in der gegenwärtigen Situation besonders zutage, wo Hungernot droht, weil zum Abtransport einer insgesamt reichen Getreideernte die Transportkapazitäten fehlen.

Es fehlt an funktionstüchtigen Lastwagen und Straßen. Auch hier sind die Kosten ein Problem. In den warmen Ländern wird das Gelände geglättet, Teer aufgeschüttet und plattgewalzt, und schon gibt es eine funktionstüchtige Straße. In der winterkalten Sowjetunion würde eine solche Straße nicht halten.