: „Wir müßten gegen uns selbst Krieg führen“
Weil die Verkehrsindustrie-Lobby unzufrieden war, wurde ein EG-interner Bericht abgesetzt/ Er sah vor, den Verkehr stärker auf die Schiene zu verlegen, um die Umwelt zu retten/ EG-Binnenmarktkommissar Bangemann will „Antiverschmutzungsauto“ ■ Aus Brüssel Michael Bullard
„Ist der Autoboom zu Ende?“ Nicht erst seit der Golfkrise machen sich die Produzenten fahrbarer Untersätze im EG-Bereich Sorgen, wie sie ihr Geschäft auch in Zukunft einträglich gestalten. Trotz unerwarteter Nachfrage aus Mitteleuropa, ungebrochener Automobilbegeisterung in Westeuropa und Rekordumsätzen ist die Branche verunsichert: Die japanische Konkurrenz zwingt zu weiteren Fusionen. Daß der Markt jedoch noch lange nicht gesättigt sein wird, wußte EG-Binnenmarktkommissar Martin Bangemann letzte Woche in München zu berichten:
„Die Voraussagen für den europäischen Automobilpark bis 1998 gehen von einer Zunahme der Neuanmeldungen um jährlich drei Millionen Fahrzeuge aus“. Befördert werde diese „erfreuliche“ Entwicklung durch die Liberalisierung des Personen- und Güterverkehrs im Rahmen des Binnenmarktprojekts EG'92. Der grenzüberschreitende Lastwagenverkehr soll dann um 30 bis 50 Prozent zunehmen, errechnete letztes Jahr eine von der EG beauftragte Expertengruppe. Der Luftverkehr wird sich in den nächsten zehn Jahren sogar verdoppeln. Weil dies die Umwelt übermäßig belasten würde, schlugen die Kommissare van Miert für Verkehr und Ripa di Meana für Umwelt, Anfang Oktober vor, den Verkehr stärker auf die Schiene zu verlegen.
In dem dazu erstellten Bericht „Transport und Umwelt“ heißt es: „Der Straßenverkehr verursacht die größten Umweltprobleme. Etwa 58 Prozent der gesamten Stickoxid- Emissionen und 22 Prozent der Kohlendioxid-Emissionen“, die für Waldsterben und Treibhauseffekt verantwortlich sind, „werden vom Straßenverkehr im EG-Bereich produziert. Die Vormachtstellung des Straßentransports kann nur durch substantielle Änderungen in der Verkehrspolitik zugunsten umweltfreundlicherer Transportweisen herausgefordert werden“. Dazu reiche es nicht, schreiben die Autoren, massiv in Infrastruktursysteme zu investieren. Vielmehr müsse die Integration der verschiedenen Verkehrsträger forciert werden, wenn das Ziel — bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, eine gesündere Umwelt und ein engerer wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in der EG — erreicht werden soll.
Weil selbst diese vorsichtigen Empfehlungen des kommissionsinternen Berichts den Interessen der einflußreichen Lobbygruppe „Der Runde Tisch der Europäischen Industriellen“ widersprechen, wurde er vorletzte Woche kurzerhand abgesetzt. Er soll vor der Weitergabe an den EG-Ministerrat und an das Europaparlament noch einmal überarbeitet werden. Denn die äußerst einflußreiche Verkehrsindustrielobby unter Vorsitz von Fiat-Chef Umberto Agnelli drängt darauf, daß die Minister noch in diesem Jahr eine Prioritätenliste für die europäischen Infrastrukturvorhaben verabschieden. Dazu gehört die Vervollständigung der europäischen Nord-Süd-Achse von Schottland bis Sizilien u.a. durch die Subventionierung der Tunnelprojekte zwischen England und Frankreich und durch die Alpen. Außerdem soll das Autobahnnetz in den Pyrenäen und in Irland mit Hilfe von EG-Geldern ausgebaut werden. Vor allem aber geht es um das Prestige-Projekt Hochgeschwindigkeitszüge und die Liberalisierung des internationalen Flugverkehrs. Alle diese Vorhaben seien noch nicht einmal im Ansatz auf ihre Umweltverträglichkeit hin überprüft worden, kritisiert der Mitarbeiter bei den Euro-Grünen, Paul Beekmann. Ein Zuwachs des Luftverkehrs um 100 Prozent oder mehr ist für die Umwelt eine größere Gefahr als bisher angenommen. Eine Vermehrung der Stickoxide in der Stratosphäre um nur zehn Prozent entspricht in der Wirkung fünf Jahren der gesamtindustriellen Kohlendioxid-Emissionen.
Geschwindigkeitsbegrenzungs- Gegner Bangemann weiß auch hier Rat: Superschnelle Züge und das „Anti-Verschmutzungsauto“ seien die Lösung. 1992 sollten alle EG- Autos US-Emissionsstandards erreicht haben. Umweltkommissar Ripa di Meana beschimpft währenddessen Leute, die noch mit dem Auto zur Arbeit fahren, als „Selbstmörder und verrückte Ratten“. Die Brüsseler Busse und U-Bahnen hat er selbst jedoch erst einmal benutzt. Der vollkommenen Automobilisierung Europas steht nichts mehr im Wege — nicht einmal das Europäische Umweltbüro in Brüssel. Warum der Dachverband von 120 Umweltorganisationen Europas keine Aktionen gegen diese Verkehrspolitik organisiert, erklärt Sprecherin Taschner: „Das ist schwierig, weil inzwischen alle Umweltschützer Autos haben. Wir müßten im Grunde gegen uns selbst Krieg führen, können es aber nicht, weil wir dann unseren eigenen Lebensraum beschränken.“
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