Der verstummte Philosoph

■ Zum Tod des französischen Marxisten Louis Althusser NACHRUF

Unter allen „maîtres-penseurs“ des Frankreichs der 60er Jahre hat Louis Althusser, geboren in Birmandreis in Algerien im Jahr 1918, vielleicht das seltsamste Schicksal gehabt. Wegen seines theoretischen Einflusses, wegen seines einzigartigen Werks und wegen seiner konfliktbeladenen, aber dennoch engen Beziehungen zu den Maoisten und anderen „Gauchisten“ jener Zeit. Das letzte Mal hatte Louis Althusser eine große Öffentlichkeit, als er sich selbst anklagte, seine Frau Hélène getötet zu haben. Das war im Jahr 1980.

Schon vorher war Althusser nur noch sporadisch aufgetreten, meist fielen seine Vorlesungen an der Ecole Normale Supérieure aus, weil er wegen schwerer Depressionen in ärztlicher Behandlung war. Aber seit jener Zeit verschwand er vollständig von der Bühne, seine Stimme war in der philosophischen Debatte nicht mehr zu hören.

Es ist bezeichnend, daß Althusser selbst in durchaus gutwilligen Anthologien und Darstellungen der französischen Nachkriegsphilosophie aus der Zeit nach 1980 kaum mehr erwähnt wird. Dabei ist es berechtigt, je geradezu zwangsläufig, ihn in die Reihe der „Meisterdenker“ der französischen Nachkriegszeit zu stellen. In den frühen Darstellungen und Textsammlungen, die in der Bundesrepublik das damals neue Phänomen „Strukturalismus“ bekannt machen sollten, fehlten sein Name und ein Beitrag von ihm niemals. Und dies zu Recht. Gegen die eingefahrenen Denkschemata des stalinistischen Marxismus der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), welcher er selbst angehörte, versuchte Althusser, durch einen Rekurs auf die ursprünglichen Texte, als essentiell Neues bei Marx eine Theorie des Bruchs und des radikalen Paradigmenwechsels gegenüber dem Hegelianismus zu propagieren. Dabei wandte er sich insbesondere gegen den humanistisch-utopischen Fortschrittsglauben, wie er auch im Gefolge von Sartres Marx-Rezeption en vogue war.

Für Althusser handelte es sich vielmehr darum, dem „theoretischen Antihumanismus“ in der Theorie Bahn zu brechen. Damit wollte er nicht — wie es ihm die ersten Interpreten in der Bundesrepublik, die allesamt aus dem Umfeld der Frankfurter Schule kamen, unterstellten — eine Theorie der Unmenschlichkeit entwickeln. Es ging ihm vielmehr um die Dezentriertheit des Menschen und, wie der Philosoph sich selber ausdrückte, um das „Primat des Widerspruchs über die Widersacher“.

Althusser wollte damit auf einen logischen Bruch in den vorherrschenden Interpretation der Marxschen Klassenkampftheorien hinweisen: Es ist unmöglich, eine Theorie auf einer ewigen Idee von dem Menschen schlechthin aufzubauen. Ein solcher Marxismus verfängt sich in den Widersprüchen der philanthropischen Bonhommie — und ihrem verheerenden Unverständnis für alles, was außerhalb liegt. Und das ist schon einer der maßgeblichen Punkte, an denen später ein Michel Foucault mit seiner These vom „Verschwinden des Menschen“ ansetzen sollte. Auch liegt die Parallele zu den Arbeiten von Claude Lévi-Strauss auf der Hand, der sich in der Ethnologie — erfolgreich — um den Nachweis mühte, daß die Unterscheidung zwischen sogenannten Primitiven und uns sogenannten Zivilisierten auf einer geschichtsteleologischen Überhöhung unserer Kultur beruht: Die Primitiven haben nicht schlechter gedacht als wir, ihr Nachdenken galt bloß anderen Objekten.

Bei aller Zwiespältigkeit ist Althussers klare Parteinahme für die Diktatur des Proletariats, die Ausgangspunkt seines Zerwürfnisses mit der KPF von Georges Marchais war, weniger eine hyperdogmatische Position als vielmehr durch seine Beschäftigung mit dem Maoismus zu erklären. Insbesondere die aktionistische Seite in Maos Denken schien ihm eine Waffe gegen den erstarrten Etatismus des realexistierenden Revisionismus und Stalinismus. Fortan versucht er seine Deutung des Marxschen Werks — die er in der Tradition der Wissenschaftsgeschichte von Canguilhem und Bachelard auch an formalen Standards mißt —, ohne sie durch eine neue Geschichtsteleologie zuzukleistern, mit dem Gedanken der klassenkämpferischen Praxis in Einklang zu bringen. Vielleicht ist es gar nicht so paradox, wie es auf den ersten Blick scheint, daß ausgerechnet der marxistische Theoretiker, der sich am meisten um die Verwissenschaftlichung der Marxschen Theorie bemüht, gleichzeitig auch derjenige ist, der am stärksten den aktionistischen — und damit prinzipiell für die gesellschaftliche Praxis offenen — Aspekt an ihr hervorhebt. Nur, und das hat vielen hierzulande mißfallen, legitimiert er diese Praxis nicht aus einer vorgeblichen moralischen Höherwertigkeit heraus und garniert sie auch nicht mit der süßlichen Tunke eines Utopismus oder Heilsversprechen.

Althussers Bemühen um eine wissenschaftliche Lektüre des Marxismus fand seinen Niederschlag in dem, was man mit Fug und Recht als sein Hauptwerk bezeichnen kann: Das Kapital lesen (gemeinsam mit Etienne Balibar und anderen). Es schlossen sich polemische Auseinandersetzungen mit seinen Kritikern, eine Studie zu Lacan, und eine zwar nur in Ansätzen entwickelte, aber dennoch für die damals gängige marxistische Theorie revolutionäre Studie zur Ideologie an. Darin liefert Althusser Ansätze, die seinen Ausgangspunkt weiterentwickeln. Er wehrt sich gegen die „Wissenschafts-Wissenschaft“, also die Erkenntnistheorie, und beharrt demgegenüber auf einem pragmatischen Ansatz: Philosophie, das ist für ihn Klassenkampf in der Theorie.

Mit seiner Theorie von den „ideologischen Staatsapparaten“, in Anlehnung an Gramscis Begriff der „zivilen Gesellschaft“, versucht er, jenseits aller Psychologie- und Manipulationstheorien eine Antwort auf die Frage Etienne La Boeties nach dem Warum der „freiwilligen Knechtschaft der Menschen“ zu finden. Diese Antwort liegt für Althusser in der überhistorischen Evidenz, mit der die Institutionen des bürgerlichen Staatsapparates uns als Subjekte anrufen. Das verleiht die, so Althusser, ideologische Gewißheit, außerhalb der Ideologie und in der Wahrheit zu stehen. Mit seinem Begriff der „Überdetermination“, der der Theorie des französischen Psychoanalytikers Lacan entlehnt ist, zielt Althusser auf eine Besonderheit des Kapitalismus gegenüber allen anderen Gesellschaftsformationen: Es ist die einzige Gesellschaftsformation, in der die nach Veränderung strebende Dynamik nicht kontingent, sondern inhärent ist.

Heute mag vieles an Althussers Theoremen fraglich oder gar durch die Geschichte überholt erscheinen. Aber sein rigoroser theoretischer Anti-Hegelianismus, sein nicht minder rigoroses Streben nach einer Verbindung von Wissenschaftlichkeit und Praxis in der Theorie stießen das Tor zu Arbeiten wie denen von Deleuze, Guattari, Foucault und vielen anderen auf, die eben aus dem Scheitern seiner Wissenschaftlichkeit die Bausteine für ihre Ansätze einer „beschreibenden Theorie“ — übrigens auch ein Begriff von Althusser — entnahmen. Und wenn dereinst Marx seine ihm ebenso wie Hegel gebührende Rolle als — im Guten wie im Schlechten — Klassiker der Philosophie wieder einnehmen wird, dann wird das Werk von Louis Althusser ein unentbehrlicher Wegweiser zu dessen Verständnis sein. Ulrich Hausmann