Europa gegen den Anschluß der Seele

■ Experten aus Westeuropa besuchen West- und Ostberliner Psychiatrie-Einrichtungen/ Psychisch Kranke in Ost-Berlin werden seit der Währungsunion weniger in die Gesellschaft integriert

Tiergarten. In Berlin wird es besonders deutlich: Auch die psychisch Kranken unter den ehemaligen DDR-Bürgern werden angeschlossen. Und wenn es auch kaum Erhaltenswertes am zusammengebrochenen Realsozialismus gibt, so sind sich über ein Dutzend Experten aus ganz Europa, die Anfang der Woche psychiatrische Einrichtungen in Berlin-West wie -Ost besuchten, darin einig, daß die Betreuung der Seele in Ost-Berlin weitaus besser als im reicheren Teil der Stadt sei. Beeindruckendstes Beispiel: Bis zur Einführung der D-Mark hatten von 100 psychisch Kranken in Ost-Berlin 90 einen Arbeitsplatz, in West-Berlin waren es von jeweils 100 Patienten nicht mehr als vier.

Was hinter diesen Zahlen steckt, verdeutlicht Peter Kruckenberg, Arzt an der Klinik für Psychiatrie in Bremen. Bei seinem Besuch auf der Station chronisch Kranker in der Westberliner Karl-Bonnhöfer-Nervenklinik hätten die Patienten ihm durchweg mitgeteilt, daß sie nicht wieder heraus wollten. Mitarbeiter glauben entsprechend, daß diese Patienten auch nicht heraus könnten. In der Lichtenberger Nervenklinik hingegen würden Patienten Pläne für ihren weiteren Lebensweg schmieden und Mitarbeiter die Zusammenarbeit mit externen Institutionen suchen. Weil die Situation in Großanstalten nur sehr schwer zu verändern sei, rät Kruckenberg: »Man muß sie verkleinern«. Bremen sei hierfür ein erfolgreiches Beispiel.

Den niederländischen Professor Mark Richartz hat im Osten die »kommunale Vollversorgung« psychisch Kranker beeindruckt. Nach dem Zusammenbruch der DDR stelle er bei den Mitarbeitern allerdings eine »merkwürdige Haltung« fest: Auch sie würden auf »Direktiven von oben« warten. Die Einrichtungen in West-Berlin — materiell wesentlich besser ausgestattet — säßen in einer »technokratischen Versorgungsphase« fest. Er rät dazu, daß die Dienste mehr untereinander zusammenarbeiten sollten und auch eine bessere personelle Kontinuität sicherstellen müßten. Ambros Uchtenhagen vom Sozialpsychiatrischen Dienst der Universitätsklinik Zürich befürchtet, daß sich durch die drohende Obdachlosigkeit in Ost-Berlin das Krankheitsbild nicht nur von psychisch Kranken zudem verschlechtern werde.

Die schärfste Kritik an den Zuständen in der Psychatrie West wie Ost äußerte Kostas Bairaktaris, Professor aus Griechenland. Die Karl- Bonnhöfer-Klinik »Bonnis Ranch« in Reinickendorf und die Klinik in Lichtenberg erinnerten ihn weniger an moderne psychiatrische Einrichtungen, sondern vielmehr an Anstalten im herkömmlichen Sinne. Das Personal erfülle dort eher eine überwachende als eine therapeutische Rolle.

Dennoch glaubt er, daß es in Lichtenberg gerade wegen der dort schlechteren materiellen Ausstattung bessere Voraussetzungen für positive Veränderungen gebe. Bairaktaris schlug gestern auf der Veranstaltung der »Deutsch-Italienischen Gesellschaft für geistige und seelische Gesundheit« vor, jetzt keine zwanghafte Gesamtlösung für Berlin zu suchen.

Sybilla Fried, psychiatrische Referentin der Senatsverwaltung Gesundheit und Soziales, kann keine Hoffnung versprühen. Daß mit der Einführung der Marktwirtschaft psychisch Kranke als erste ihren früher gesetzlich geschützten Arbeitsplatz und auch ihre Wohnung verlieren werden, sei von ihrer Senatsverwaltung nicht zu verhindern. Die sozialpsychatrischen Dienste könnten vorerst lediglich dabei helfen, den Tagesablauf neu zu strukturieren. Dirk Wildt