SPÄTLESE

Natürlich ist es eine altertümliche und eigensinnige Erwartung, Literatur solle bisher ungesehene Wirklichkeit vor Augen führen oder unseren winzigen und lächerlichen Erfahrungskreis um ein Teelöffelchen Substanz vermehren, trotzdem verläßt sie mich nicht. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb Neuerscheinungen en masse bei mir eine tiefe Ambivalenz verursachen — die Tatsache, daß dort nicht teelöffelweise, sondern in Tonnenstärke neue Realitäten angepriesen werden, führt die Angst mit sich, enttäuscht zu werden. Erschwerend kommt hinzu, daß in einer Welt, in der die Neuheiten im Tempo des Hip Hop alles Gewohnte kolonisieren, ein neues Buch auch ein kleines bißchen schäbig wirkt, wie eine in Plastik eingeschweißte Armbanduhr, die mit Hunderten der gleichen Art auf dem Wühltisch liegt und in nichts das Versprechen birgt, es gebe nur einen einzigen passenden Arm. Der leichte Ekel vor jedem neuen Produkt, die unvermeidliche Unsicherheit, ob eben dieses überdauern wird, macht die Auswahl schwer. Man geht zurück an die Regale und holt eine alte Ausgabe von Effi Briest heraus — kein Liebhaberobjekt, keine signierte Rarität, ein einfaches, leicht abgestoßenes Leinenbändchen mit dreißig Jahren auf dem Buckel, eine kleine Erholung in der Welt des neuen, eine eingefleischte Kuhle in einem alten Ledersessel, passend zum Gemütsgesäß. Aus diesem Grunde: nicht nur neue Bücher in dieser Rubrik, sondern hin und wieder auch alte, Kuhlen in den Bücherbergen.

Wolfgang Koeppen in den USA

Mit einer Enttäuschung beginnen: Harold Brodkey, der große Schweiger der amerikanischen Literatur. In Nordamerika scheint er eine hier Koeppen vergleichbare Rolle zu spielen; nach einem gerühmten Debüt (Stories im Jahre 1958) eine fast dreißigjährige publizistische Abstinenz. Schreiben ist Silber, Schweigen ist Gold, gilt in einem Gewerbe, das wie jedes andere nach der unaufhörlichen Steigerung lechzt, natürlich viel. Zur Lektüre verführt hat mich zudem das Teelöffelchenprinzip, denn die Welt eines sechzigjährigen Literaturprofessors in New York ist natürlich ein Kosmos für sich, aber dennoch weniger fremd als die Erinnerungsarbeit eines kirgisischen Traktorfahrers von 85 beispielsweise. Insofern also ermutigend: ein bißchen neue Welt, gepaart mit dem Versprechen, auch über die eigene mehr zu erfahren. Und nun die Enttäuschung: Ich finde es flach und verkrampft, akademisch und gesucht. Nichts gegen Metaphern, aber man sollte ihnen den schweißtreibenden Prozeß der Er-findung nicht allzu deutlich anmerken. Wenn ich lese: „Ich bemerke, daß er sie so ansieht, als unterstriche jemand eine Passage in einem Buch“, dann denke ich, daß da jemand konzentriert und lange nach einem Vergleich gesucht hat, der absolut originell ist und damit wenig originell scheiterte. Erstens hätte er sie so ansehen müssen, als unterstriche er eine Passage in einem Buch — und zweitens ist es ganz und gar unmöglich, jemanden so anzusehen, mit diesem blinden Blick, der dem Strich unter den Zeilen folgt, mit genau der gedankenlosen Starre, die nichts mit der Überraschung zu tun hat, die Brodkey in dieser Szene beschreiben will. Haarspaltereien, gewiß. Aber wer ins Elysium eingehen will...

„Ein Dichter“, läßt Brodkey einen jungen Autor schreiben, „ist einer, dessen Worte [...] unverfälscht klingen.“ Er schreibt ein wahres Wort gelassen hin, aber er hält sich nicht daran. Über die Anonymität zum Beispiel schreibt er: „Unbeugsame Gemüter empfinden sie als verfrühtes Begräbnis, als trügen nur besondere Stimmen besonders weit oder als sei eine Existenz als Unbekannter ein so ernstzunehmendes Anzeichen für Ungerechtigkeit, daß dies einer Form des berkeleyanischen Mordes, einer Verbannung in die Nichtexistenz gleichkommt.“ Das ist allerdings verblasen. Berkeley ist nicht für eine Theorie des Mordes berühmt geworden, wohl aber für seine aggressive Verteidigung der individuellen Welt der Wahrnehmung: Was wir nicht wahrnehmen, existiert auch nicht (wobei Gott freundlicherweise uns alle mit den gleichen Ideen ausgestattet hat, was Gegebenheiten wie die Sonne, das Meer und die Gesetze der Physik betrifft), unerschütterlich allerdings ist die Wahrnehmung des Selbst, und bei einem Ausfall dieser Konstante würde es sich um Selbstmord handeln... ganz unverfälscht. Aber Berkeley hin oder her: Wer, außer einem Philosophen kurz vor dem ersten Staatsexamen, kann einen solchen Satz mit Vergnügen lesen?

Gewollte Literatur, mit stumpfem Fleiß produziert

Und was die Geschichten betrifft (denn Brodkey kann sich nicht recht entscheiden, ob er nun erzählen oder philosophieren soll, wählte dann aber die Form der Story und nicht des Essays): Er hat Woody Allen zu ernst genommen. All die Probleme der New Yorker liberalen Intelligenz, über die wir uns im Kino mit jener schmeichelnden Mischung aus Selbsterkenntnis und erleichternder Ironie amüsiert haben, so daß wir die Kinos mit uns und der Welt versöhnt verließen — er kaut sie alle noch einmal durch, gründlich, aber ohne Biß, mit angestrengt malmenden Kiefern, zwischen denen jeder Orgasmus, jede Eheszene und jedes Warum-bin-ich-so-einsam-in-meiner-Clique-Problem zu einer langwierigen Angelegenheit wird: gewollte Literatur, mit stumpfem Fleiß produziert. „Niemand von uns“, sagt ein weiterer Held papiern in einer anderen Geschichte, „ist in der Liebe klug oder stark oder verzeihend genug. Wir sind unmöglich, wenn wir lieben. Wir brauchen Humor und Geduld, doch wir sind zu gierig, um geduldig zu sein. Wir wollen die vollkommene Liebe.“ Ein gutes Buch wäre auch schon ganz schön.

Neue Kolonisierungen der Lebenswelt

Ganz anders, nur vergleichbar in der selbstbewußten Präsentation von Literatur: Goytisolos Landschaften nach der Schlacht. Manierismus, der Wirklichkeit weite Schleusen öffnend, ein unentwegtes Hin und Her zwischen den sprachmächtigen Egos des Erzählers und den Wahrnehmungen, die ihn überfluten. Es gibt Geschraubtheiten in diesem Roman, die unnötig sind („Als er an die Reihe kommt, geht unser Mann — ich bleibe, wie bisher, beim Plural, um schlechte Witze zu vermeiden, die bei böswilligen und verdrehten Lesern durch die Verwendung des Possessivpronomens der ersten Person Singular ausgelöst werden könnten [...]) und andere, die Spaß machen, weil sie direkter Ausfluß eines müßigen Bewußtseins sind. Der Protagonist lebt im Santier, dem „Bastardviertel“ von Paris, in den die Kolonisierung der Lebenswelt von einer ganz anderen Sorte ist, als Jürgen Habermas sie beschwört: orientalisch nämlich, bedrohlich präsent, scheinbar unbekümmert um die grimmigen Sorgen der eingesessenen Franzosen, die um ihre Macht im Viertel fürchten. Und er gibt sich einer Muße hin, die nicht die formvollendete des klassischen Flaneurs ist, der seinen Geist mit Bügelfalten versieht, jeder Pointe bewußt, alles auf der hintergründig schimmernden Folie des im Geheimen die Welt überschattenden Ichs betrachtet, sammelt und formuliert. Es ist jene andere Muße, die ihrer selbst hin und wieder inne wird, amüsiert und vielleicht grinsend, die aber, davon abgesehen, von sich selbst absehen kann und nicht auf geheimer Konzentration (Genuß!), sondern ihrem Gegenteil beruht. Ein Sich-treiben-Lassen im hektischen, ausgefransten Bewußtsein, das sich zu semantischen Bergen türmt und darin eine kurze Ruhe verschafft, bevor es weitergezogen wird. Ein Bewußtsein, das sich Details zu eigen macht, indem es sie interpretiert, die Machtlosigkeit der Person selbst kompensierend.

„kacken massenhaft, um sich zu trösten“

Ein Bewußtsein, das mit vielen Stimmen spricht: gelangweilt, ironisch, angespannt, geziert, mit plötzlicher Lässigkeit. Hin und wieder fallen alle retardierenden Rücksichten vom Erzähler ab, er wird nachgerade zupackend: „Die Köter sausen hin und her, wedeln mit dem Schwanz, kläffen, pissen, beschnüffeln einander, verbinden sich in festlicher Unbefangenheit, versuchen erfolglos zu kopulieren, kacken massenhaft, um sich zu trösten.“ Doch viel häufiger hat man den Eindruck, der allmählichen Verfertigung des Gedankens beim Schreiben eher nachzulaufen als beizuwohnen, als sei der scheinbar nachlässig organisierte, vom Wesentlichen zum Unwichtigen, von der Beobachtung zur Betrachtung sich schlängelnde Sprachfluß ein einmaliges, nicht reproduzierbares Geschehen — gleich dem Denken selbst. So tritt eine eigentümliche Verkrampfung ein, wenn man die Sätze in ihren Teilstücken wieder und wieder liest, an „Stellen“ sich festhält, wenn eine klare Vorstellung oder gar eine Unlogik hergestellt oder entdeckt werden kann — wie die Pupille sich irgendwann festkrampft am Rahmen des Fernsehers, während durch die Fernbedienung alle 27 Programme in einen irrlichternden Kampf miteinander getreten sind. Eine anstrengende, aber königliche Lösung, will man dies schlenkernde, unkontrollierbare Leben abbilden, das in den Großstädten ist. Enzyklopädie ist unmöglich und wäre, falls möglich, keine Lösung, denn sie ist die Organisation selbst. So wechseln banale, aber schlagende Einfälle — das Verlangen der Leute ernst nehmen, die vor einem Horrorfilm Schlange stehen und sie in eine bösartige Diktatur stürzen, in der ihnen bei jedem unerwarteten Geräusch das Blut in den Adern gefriert — mit zynischen Kunstgriffen: der trockene Dialog eines Pädophilen mit einem frischen Opfer, von gnadenloser Lakonie. Welche Szenen sich in der Phantasie des Autors, des Protagonisten oder des Lesers abspielen und welche einen anderen Modus von Wirklichkeit beanspruchen können, spielt dabei keine Rolle.

Die Mimesis eines zerfaserten Bewußtseins

Dem Autor ist, trotz des hin und wieder allzu gelehrigen Ehrgeizes, nicht nur einen Text, sondern zugleich auch einen Meta-Text (über Literatur und ihre Mißverständnisse über sich selbst und ihre Formen) zu schreiben, eines gelungen: die Mimesis (mit all ihrem spöttischen Beiklang) eines zerfaserten Bewußtseins, des vollkommenen, gedankenreichen und zugleich verlorenen Innehaltens vor der Welt — und eine sehr komische Reverenz an eine Epoche, in der Wahrheiten der unterschiedlichsten Art in ihrer zähen, unaufhaltsam scheinenden Auflösung noch einmal um sich schlagen. Und in der das, was in Zeiten gußeiserner abendländischer Gewißheit als „Relativismus“ denunziert wurde, zur performativen Wahrheit wird: der Kampf der autonomen antikapitalistischen Gruppen gegen die revolutionären Lesben gegen die Selbstschutzbrigaden der patriotischen Karl-Martell-Milizen gegen Protestkommandos gegen den Völkermord an den Oteken, der Kampf aller gegen aller, nicht zuletzt auf den frisch getünchten Hauswänden der Bürger, die mit grimmiger Fassungslosigkeit die unleserlichen Hieroglyphen der neuen Eroberer zu entfernen versuchen. „In die Realitäten einzutauchen ist ein ebenso riskantes Unterfangen wie das Betreten eines Minenfeldes: das Subjekt dieser Geschichte dringt ins Universum der ungeregelten Modernität gewissermaßen auf Zehenspitzen ein, hält nach jedem Schritt an, um Luft zu holen, blickt zurück, als wolle er sich von der Welt verabschieden, und addiert im Geiste die Symptome des absurden und schon sehr nahen Endes.“

Landschaften nach der Schlacht wurde aus dem Spanischen von Gisbert Haefs übersetzt, was in diesem Fall heißen muß: neu geschöpft. In einem Roman, der es unternimmt, Gedankenläufe selbst zu zeigen, und in dem die sich kreuzenden, gänzlich ungeordneten, schwungvoll sich verknüpfenden Atome der Wahrnehmung ihre Labilität nicht verbergen dürfen, kann die Arbeit des „Übersetzens“ nicht hoch genug bewertet werden. Und schließlich: Nicht nur das Buch ist ein Ereignis, sondern auch seine Gestaltung — die schönste, die mir seit langem begegnet ist.

„Der Mann auf dem Kap des Denkens“

So nannte Walter Benjamin den Franzosen Paul Valéry, der das Denken der Gegenwart in wahrhaft monomanischer Arbeit auf der Überholspur begleitete. Sein Versuch, die Fähigkeiten und Funktionsweisen des menschlichen Geistes transzendental zu erkunden, ist in den Cahiers zusammengefaßt, geschrieben im Morgengrauen, den Kopf in die Handschale gestützt, mit angestrengter Aufmerksamkeit — ein Zustand, den er selbst als den der „Mobilmachung“ beschrieb. (Diese militärische Konstitution des männlichen Geistes, die auch Wittgensteins Mund verrät, um den sich die Spuren der nach innen gerichteten Härte schon früh eingebürgert haben.) Von den Cahiers ist nun der vierte Band erschienen, ein Thema ist das Bewußtsein. Wie ein Kommentar zu Goytisolo liest sich eine Bemerkung aus dem Jahre 1905: „Die Devise des Bewußtseins ist: Ich kann unendlich anders sein.

Harold Brodkey: Unschuld. Nahezu klassische Stories. Rowohlt, gebunden, 456 Seiten, 45 DM

Juan Goytisolo: Landschaften nach der Schlacht. Suhrkamp, geb., 175 Seiten, 32 DM

Paul Valéry: Cahiers/Hefte 4 . S. Fischer, geb., 643 Seiten, 88 DM