Im Aldi beispielsweise

■ Beobachtungen in einem von Aggressionen bewölkten Makrokosmos

Der schwedische

Botaniker Carl von Linné (1707-1778) widmete seinem Sohn Felix als Erziehungsschrift die »Nemesis

Divina«, eine merkwürdige Sammlung von zeitgenössischen Schicksalsbegebenheiten und Verbrechen. In der Einleitung heißt es: »Ich habe diese wenigen casus zusammengestellt, an die ich mich erinnere. Spiegle Dich in ihnen und hüte Dich. Felix quem faciunt aliena pericula cautum« (= glücklich, wen fremde Gefahren vorsichtig machen).

Im überfüllten 29er Bus boxt eine alte Frau eine junge. Mit zwei unsportlichen Hieben fordert die Alte, die von sich sagt, sie sei körperbehindert, ihr Opfer auf, den Sitzplatz zu räumen. Wozu die Geboxte durchaus bereit war, wegen der Enge aber nach Auffassung der Angreifenden nicht schnell genug reagierte. Auch im Hinterhof konnte ich in den vergangenen Wochen übersichtlich- mikrokosmische Spiegelungen eines sich verändernden, von Aggressionen bewölkten Makrokosmos studieren. Neu in der hiesigen nachbarschaftlichen Fein(d)struktur ist die kollektive, latente Gewaltbereitschaft. Zum Beispiel verbündeten sich erstmalig mehrere Mietparteien gegen einen (wegen Gestanks) verhaßten Mitbewohner aus dem Seitenflügel. Nach heftigen Beschimpfungen wurden ihm von einer Frau aus dem 4. Stock büschelweise die schütteren Haare ausgerissen, eine andere schlug mit ihren Krücken auf ihn ein, während eine dritte, die Ex-Hausmeisterin, sich auf anfeuernde Zurufe beschränkte. Wohl auch, weil sie als Mutter von drei heulenden Kindern, die während der Prügelei neben dem lodernden Grill kauerten, kein schlechtes Vorbild abgeben wollte. Letzten Sonntag kam es dann, wiederum durch die bekannten, ewig gleichen privaten Streitereien ausgelöst, im Hinterhaus gar zu einer Schießerei. Niemand wurde verletzt. Als jedoch der Übeltäter von vier Beamten abgeführt wurde, hörte man aus den erregten Kommentaren der Anwohner die Suche nach anderen, größeren, abstrakteren Erklärungen für den Vorfall. »Bist du von 'ne RAF oder von 'ne Stasi?« Wiewohl die Prägnanz und Direktheit der Frage in diesem Fall eindeutig vorherigem Alkoholgenuß zuzuschreiben ist, läßt sich in ihr doch eine beständig wahrer, wirklicher werdende, mikro-/makrokosmische Verbindungslinie entdecken. Eine fast metaphysische Verknüpfung, die immer häufiger als Motiv herbeizitiert wird, wenn hierzulande kleine Ausrutscher, private Vergehen, mittlere und schwere Verbrechen begründet oder legitimiert werden.

Im Aldi beispielsweise. Eine Westkäuferin grapscht nach der letzten Dose eines Fertiggerichts und legt sie, mit einem Anflug sichtbarer Befriedigung, zu den anderen Konsumgütern in ihren Einkaufswagen. Dabei wird sie von einer Ostkäuferin beobachtet. Neid kommt auf — oder tieferliegende Gefühle? Als sich die Westkäuferin wenig später auf die Auswahl anderer Waren in volleren Regalen konzentriert, nimmt die Ostkäuferin das begehrte Dosengericht aus dem fremden Wagen und legt es in ihren eigenen. In der dann folgenden Auseinandersetzung — der aufmerksamen Westkäuferin ist die Tat natürlich nicht entgangen — rechtfertigt die Ostkäuferin ihr Verhalten mit dem großen Betrug der DDR-Bürger und den 40 langen Jahren der Entbehrung. Ein Aldi-Mitarbeiter muß den Streit schlichten. In einem anderen Supermarkt sieht eine junge, liberale Westfrau, wie ein Ostvater seinem Sohn die Händchen so grob gegen die Lenkstange quetscht, daß der Kleine zu schreien beginnt. Das, so die erregte Westfrau, sei hier (= im Westen) nicht die Art, mit Kindern umzugehen. Er solle das bitte sofort lassen! Der Ostvater läßt sich durch die Rüge nicht weiter einschüchtern. Vielleicht, um sich später bei seinem Sohn entschuldigen zu können, klaut der Ostvater eine Tafel Schokolade. Was im Samstagsgedränge sicher nicht weiter aufgefallen wäre, hätten ihn nicht die Augen der erzürnten Westfrau verfolgt. »Aus Rache«, wie sie dem Vater später ins Gesicht schrie, »weil ihr Ostler es sonst ja nicht kapiert!«, denunzierte sie ihn. Eine wütende, ohnmächtige Verbündung mit dem Klassenfeind, wie sie vor einem Jahr nicht denkbar gewesen wäre. Unmittelbarer und direkter war die Intervention einer Westmutter auf einem Wochenmarkt in Tiergarten. Sie wurde Zeugin, wie eine Ostmutter ihre vom Warenangebot überwältigte Tochter mit Schlägen zur Raison zu bringen versuchte: Die Westmutter begann unter Vorbringung progessiv-pädagogischer Leitsätze die Ostmutter zu verprügeln. Der dichte Fußgängerverkehr kam kurzzeitig zum Erliegen. Als sich der Stau wieder aufgelöst hatte, drosch die Ostmutter, offensichtlich aufgeheizt, abseits der Stände weiter auf die Kleine mit dem auffallend flachen Hinterkopf ein.

Ein ebenso neuralgischer Punkt wie der Einkauf von Lebensmitteln im neuen Deutschland ist der Straßenverkehr. Im »Ost- und Westteil unserer Stadt« herrschen einfach andere Gepflogenheiten, andere Sitten — andere Gebräuche. Damit entschuldigte sich auch jener Trabi-Fahrer, der beim Rechtsabbiegen in Charlottenburg eine Fahrradfahrerin zu Fall gebracht hatte. Als er ausstieg — die Fahrerin mit aufgeschlagenen Knien und verdrehtem Lenker am Boden liegend —, sagte er zu ihr: »Tja, an Fahrradfahrer müssen wir uns eben erst gewöhnen. Das gab's bei uns früher ja nicht so.« Zum Abschluß dieser unvollständigen Aufzählung von Vergehen mit gesamtdeutschen Pseudolegitimationen sei ein Fall aus dem Norden der ehemaligen DDR erzählt. Thomas K. und seine Freundin aus West-Berlin fuhren, erholungssuchend und neugierig auf die neue Heimat, an die Ostseeküste. Es war ein trüber Tag, und deswegen war bei der Strandkorbvermietung nicht viel los. Der frischgebackene Unternehmer hatte den Betrieb einen Moment sich selbst überlassen. Trotzdem bezog das Westpaar einen der vielen leeren Körbe, gewillt jedoch, die Miete später zu zahlen. Dazu kam es nicht: Der Strandkorbbesitzer sah, als er zurückkam, die Eindringlinge und vermutete Betrüger. Mit der verzweifelten Frage: »Wenn ihr Scheiß Westler nicht wißt, daß man Eigentum respektieren muß, wer dann?« wurde Thomas K. vom Strandkorbbesitzer krankenhausreif geschlagen.

Dem Ungerechten ergeht es wie dem Gerechten (Pred. 9,2). Dorothee Wenner