„Ich weiß es nicht, fragt die Männer“

Schweigegebote für indische Frauen  ■ Von Madhu Kishwar

In einer Gesellschaft wie der Indiens, in der Unterordnung und Ausschluß von Frauen häufig extreme Formen annehmen, wird den Frauen nicht selten untersagt, ihre Erfahrungen, Wahrnehmungen und Meinungen anderen Frauen mitzuteilen, besonders solchen Frauen, die eindeutig außerhalb der eigenen Familie stehen. Ihre Mitteilungen werden als Akt des Aufbegehrens und daher als Verstoß gegen die Familienehre angesehen; man verlangt von ihnen, daß sie ihre Meinungen und Erfahrungen durch die Männer der Familie nach außen tragen lassen.

Beispielsweise fand ich bei einem Forschungsprojekt über Heiratspraktiken in einem Dorf des Madya Pradesh, daß die Frauen auf meine Fragen nach der Menge der Geschenke und Gegengeschenke bei der Heirat ihrer Kinder oft mit der Bemerkung reagierten: „Ich weiß es nicht, frag die Männer, die arrangieren das. Sie wissen darüber besser Bescheid.“ Man könnte dies sehr einfach als Doppelspiel interpretieren, denn ich wußte, daß sie in Wahrheit nicht so unwissend waren. Oder man könnte es wirklich als Ignoranz interpretieren, die sich aus ihrer völlig an das Haus gebundenen und isolierten Existenz ergab und die sie davon abhält, selbst die wichtigsten Daten ihres eigenen Lebens zur Kenntnis zu nehmen. Eine solche Feststellung hätte zweifellos auch zu ihrem eigenen Selbstbild gepaßt, das sich mit dem Gefühl verband, respektable Frauen dürften mit ökonomischen Dingen, zumal wenn es um die öffentliche Sphäre ging, nichts zu tun haben, da dies ganz und gar Domäne der Männer sei.

Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, daß die Frauen, indem sie ihr Wissen nicht preisgaben, tatsächlich einen sehr wichtigen Aspekt ihrer Situation in Ehe und Familie verdeutlicht hatten. Und zwar den ihrer mangelnden Autorität. Sie konnten entscheiden, ob mir, einer Fremden, Informationen über die komplizierten ökonomischen Außenbeziehungen und ökonomischen Angelegenheiten überhaupt mitgeteilt werden sollen. Selbst wenn es in Ordnung wäre, mir etwas darüber zu sagen, wäre es schwierig, die Verantwortung dafür zu übernehmen, wieviel ich wissen sollte und welche Worte gewählt werden sollten. Männer trafen diese Entscheidung, ohne vorher die Frauen zu fragen und gaben mir eine in mehrerer Hinsicht sorgfältig manipulierte Version. Die Frauen fühlten sich offenbar nicht dazu in der Lage, ohne Nachfrage bei den Männern die notwendigen Sprachregelungen zu meistern. Insofern schien es sicherer, mich an die Männer zu verweisen, obwohl meine Fragen hätten beantwortet können.

Es war signifikant, daß die einzige Frau, die geradeheraus und detailliert antwortete, sich ohnehin bereits in einer offenen Konfrontation mit den Männern der Familie ihres Mannes befand. Auch dazu war sie nur in der Lage gewesen durch die Unterstützung der männlichen Mitglieder ihrer reichen und mächtigen Familie, die zudem in einem Nachbardorf lebte.

Selbst wenn Männer nicht körperlich anwesend sind, funktioniert die Angst vor ihrer Macht als wirkungsvolle Instanz der Zensur im Kopf der Frauen. Mein erster Kontakt zu den Frauen ist fast immer dadurch determiniert, ob und wie weit die Männer einer Gemeinschaft kooperieren wollen oder nicht. Es gibt so gut wie keine Möglichkeit für mich, Frauen zu erreichen und die Männer dabei zu umgehen, ganz besonders in ländlichen Gebieten.

Unter besonderen Bedingungen lockert sich der Zugriff der Männer. Es ist oft angemerkt worden, daß die Beteiligung von Frauen an politischen Bewegungen in Phasen der Repression ermuntert wird, da Männer sich dann gezwungen fühlen, die Hilfe der Frauen in Anspruch zu nehmen. In ihrem eigenen Interesse lösen sie die traditionellen Fesseln, um äußere Kräfte wie beispielsweise Bedrohungen durch den Staat abzuwehren.

Ich selbst habe das im Zusammenhang mit Massakern beobachtet: Nach dem Pogrom an Sikhs im November 1984 in Delhi interviewte ich Überlebende der Sikhs; das war zwei oder drei Tage nach dem Ereignis. Die ganze Gemeinschaft, einschließlich der Männer war traumatisiert. Mir begegnete nicht ein einziger Mann, der gesagt hätte: „Warum die Frauen fragen? Wir können die Fragen besser beantworten“. Rückhaltlos und selbst in Gegenwart von Männern sprachen die Frauen über ihre Erfahrungen persönlicher Demütigung, über sexuellen Mißbrauch und Gruppenvergewaltigungen.

Wann immer ich derartige Verbrechen jedoch Wochen oder Monate später zu untersuchen hatte, begegneten mir die Frauen mit äußerster Vorsicht. Die von Männer definierten, zensierenden Normen des Kollektivs wurden sofort wieder eingesetzt, sobald die Männer ihre Fassung zurückgewonnen hatten. Die Selbständigkeit der Frauen wurde automatisch und ohne daß eine bewußte Entscheidung darüber gefallen wäre, wieder beschnitten und engen Sprachregelungen unterworfen.

1987 hatte ein schlimmes Massaker in Meerut stattgefunden. Unsere Gruppe, die die Vorfälle einige Wochen später untersuchte, traf nicht eine einzige Frau, die über das gesprochen hätte, was ihr selber geschehen war. Die Frauen sprachen nur über Ermordungen und Verhaftungen ihrer männlichen Verwandten, oder höchstens noch über andere Frauen, die von der Polizei zusammengeschlagen, angschossen oder ermordet worden waren.

Sollte man deshalb annehmen müssen, daß die Frauen, da sie nicht darüber redeten, tatsächlich nicht vergewaltigt worden waren? Ich glaube nicht. Die einzige Frau, die uns gegenüber von brutalem sexuellen Mißbrauch erzählte, lag verletzt im Krankenhaus. Sie hatte alle Angehörigen verloren. Man hatte ihr die Vagine bis zum Bauch aufgeschnitten, so daß ihre Därme ausgetreten waren. Mir fiel ein, was eine Frau gesagt hatte, die im November 1984 in Delhi Opfer der Gewalttaten geworden war: „Warum sollte ich schweigen? Ich habe ja niemanden mehr, der übrig ist.“ Sie meinte damit, daß alle Männer ihrer Familie tot waren und sie daher niemanden mehr hatte, zu dessen „Ehrenrettung“ sie sich selbst zensieren mußte. Denn tatsächlich hatten die weiblichen Mitglieder ihrer Familie alle überlebt.

In einem weiteren Fall sollten wir 1980 Mißhandlungen durch Polizeikräfte in einem Minoritätengebiet aufklären. Wir waren irritiert darüber, daß die politischen Aktivisten, die uns zur unabhängigen Untersuchung der Vorfälle eingeladen hatten, viel von Gruppenvergewaltigungen durch die Militärpolizei von Bihar sprachen, in den Dörfern jedoch kaum eine Familie oder Frau diese Vorwürfe bestätigte. Sie wichen den Fragen aus: Das habe in anderen Dörfern stattgefunden, nicht jedoch bei ihnen. Aufgrund dieser Aussagen kamen meine Kollegen zu dem Resultat, daß alle Geschichten über Vergewaltigung und Mißhandlung durch Polizisten politisch motiviert sein müßten und nicht bestätigt werden könnten. Auch ich war irritiert, meinte aber, daß man im Falle der Vergewaltigungen weiterfragen solle, zumal alle anderen Vorwürfe gegen die Polizei von den Opfern ohne Zögern bestätigt wurden.

Wir hakten also nach, und die folgende Episode warf schließlich Licht in das Dunkel: In einem der Dörfer an der Straße zwische Gua und Manoharpur interviewten wir eine Gruppe von Frauen, die allesamt verneinten, Opfer persönlicher Entwürdigung geworden zu sein, und uns stattdessen ausführlich von Mißhandlungen und Verhaftungen der Männer durch die Militärpolizei und über die Plünderungen der Polizisten berichteten. Auch im nächsten Dorf ergaben unsere Befragungen das gleiche Bild. Wir drückten unsere Bestürzung darüber aus und sagten, daß wir uns nicht in der Lage fühlten, den von uns geforderten Bericht zu schreiben, da keine Frau zu einer Aussage über das, was ihr geschehen war, bereit sei. Als wir schließlich schon aufbrechen wollten, trat ein junger Mann unauffällig an uns heran und sagte, er würde uns zu seiner Schwester führen. Er brachte uns zurück zu dem Dorf, in dem wir kurz zuvor Befragungen durchgeführt hatten, und stellte uns seine Schwester vor. Sie war eine derjenigen Frauen, die uns gegenüber geleugnet hatten, selber vergewaltigt worden zu sein. Ihr Bruder war mindestens zehn Jahre jünger als seine Schwester. Als er ihr jedoch befahl, uns alles zu erzählen, gehorchte sie und sprach dabei nicht nur über sich selbst sondern auch über die Fälle anderer Frauen im Dorf.

Sie hatte vorher geschwiegen, weil sie fürchtete, daß ihr Mann — der verhaftet worden war und für dessen Freilassung sie all ihren Schmuck und den Viehbestand der Familie verkauft hatte — sie verstoßen würde, sobald er davon hörte, daß sie zugegeben habe, von Militärpolizisten vergewaltigt worden zu sein. Dennoch reichte die Unterstützung eines jüngeren Bruders jetzt aus, das Risiko einzugehen und uns zu berichten.

In der gesamten Gegend sprachen nur noch zwei andere Frauen mit uns über ihre Erfahrungen. Ein von allen geachteter Gewerkschaftler hatte die Männer der Familie davon überzeugen können, daß es in Ordnung sei, wenn ihre Frauen zu uns darüber sprächen.

Meine Möglichkeiten der direkten Kommunikation mit Frauen sind also außerordentlich eingeschränkt, denn es sind fast immer die Männer des Kollektivs, die — direkt oder indirekt — darüber entscheiden, welche Erfahrungen die Frauen mitteilen dürfen. Und das hängt natürlich damit zusammen, daß es am Ende in der Macht der Männer steht, zu bestimmen, welche Folgen das Reden für die Frauen hat.

Dieser Text setzt sich zusammen aus Auszügen eines Vortrags mit dem Titel „Die Subjektivität der Forscherin und die Subjektivität der Beforschten“, den Madhu Kishwar am soziologischen Fachbereich der Delhi School of Economics hielt. Im Druck erschien der Vortrag zuerst in der indischen Zeitschrift 'Manushi‘ (Nr. 56, 1990).

Zuammen mit Ruth Vanita gab Madhu Kishwar 1987 die Anthologie „Wir erheben uns. Frauenstimmen aus Indien“ (dtv) heraus; ein weiterer Sammelband mit dem Titel „Frauen in Indien. Erzählungen“ erschien 1988 (ebenfalls bei dtv), herausgegeben von Inga Anna Winterberg. Eine der erfolgreichsten — englischsprachigen — Schriftstellerinnen Indiens ist Anita Desai, von der auch mehrere Titel auf Deutsch vorliegen. Eine englischsprachige Sammlung von bekannten indischen Schriftstellerinnen, die in Urdu, Hindu, Bengali, Marathi und Tamil publizieren, liegt im Verlag Women's Press (London) unter dem Titel „Truth Tales“ vor. Diese Anthologie wurde von dem ersten feministischen Verlag Indiens Kali for Women (New Delhi) herausgegeben, der im Juni 1984 gegründet wurde.