Bäume sterben langsam

„Sein oder Nichtsein — Die industrielle Zerstörung der Natur.“Ein Buch und eine Ausstellung in München.  ■ Von Thomas Pampuch

Quoth the Raven,

„Nevermore.“

Edgar Allan Poe,

The Raven.

Kein Mitglied des Münchner Raben- Verlags weiß so recht, warum der Verlag eigentlich so heißt. Bei der Gründung vor rund zehn Jahren war der Name irgendwie aufgetaucht und es war ein schöner Name und es gab seither keinen Grund, ihn zu ändern. Sicherlich wäre es falsch, diese gewisse Düsternis, die dem Raben eignet, nun einfach als Verlagsprogramm zu verstehen. Dennoch, betrachtet man die Veröffentlichungen des Verlags, insbesondere die Schriften und Ausstellungskataloge zu ökologischen Fragen, so kommt einem unwillkürlich jenes traurig-schwarze „Nevermore“ von Poes Raven in den Sinn. Denn seit Jahr und Tag zeigen uns die Raben, was wir verloren haben, und daß wir es wohl nimmermehr zurückbekommen werden.

„Grün Kaputt“ (1983), „Alptraum Auto“ (1986) hießen die erfolgreichen Ausstellungen, mit denen der Raben-Verlag sich einen Namen machte. In den dazugelieferten Katalogen konnte man sie bequem nach Hause tragen: Eine Mischung aus Fotos, die, gerade weil sie wenig spektakulär waren, den Blick für die Zerstörung schärften, und Texten, die, gerade weil sie knapp, ja oft zynisch waren, den Finger auf die Wunden legten. Und dazu ein Packen von Aufsätzen, in denen aus berufenem Munde über einzelne Fragen der Kaputtheit und des Alptraums nachgedacht und informiert wurde. Das Konzept der beiden Ausstellungen setzte Maßstäbe und wurde — was ja auch eine Ehre ist — gern kopiert. Nun holen die Raben selbst, nach viel Studium und Vorbereitung, zum dritten Schlag aus: „Der quasi logische Abschluß einer nicht von vornherein geplanten Trilogie“, wie es in ihrem Vorwort zum neuen Werk heißt. „Sein oder Nichtsein“, der Titel deutet an, daß es jetzt ums Ganze geht. („Und wofür entscheiden sie sich?“ fragte neugierig ein Kulturbeobachter, dem der Titel zu Ohren kam.)

Das besondere Problem der neuen Ausstellung liegt denn auch in ihrem allumfassenden Anspruch, der einerseits auf ein (nicht zuletzt auch durch Autoren des Raben-Verlags) geschärftes Umweltbewußtsein trifft, andererseits, und das ist das Schwierigere, auf eine gewisse Apathie angesichts der fast unvermeidlichen Katastrophe. In einem lesenswerten Buch (desselben Raben- Verlags) mit dem Titel „Warnungen an die ferne Zukunft — Atommüll als Kommunikationsproblem“ wurde vor kurzem der Frage nachgegangen, wie die heutigen Menschen ihren fernen und fernsten Nachfahren die besonderen Gefahren von Atommüll mitteilen können. Aktueller als diese Frage ist freilich, wie die heutigen Menschen ihren Zeitgenossen die Gefahr, in der sie stecken, nachhaltig mitteilen können. Da muß, keine Frage, entsprechend der Größe der Gefahren und der Ermüdung der Gefährdeten immer schwereres Geschütz aufgefahren werden. „Sein oder Nichtsein“, um weniger geht es wohl wirklich nicht mehr. Und dann — hoffentlich — „sich waffnend gegen eine See von Plagen durch Widerstand sie enden.“

Diesem Widerstand aber muß, wie Nicolaus Born in seinem im Katalog abgedruckten Beitrag über „Die Welt der Maschine“ schreibt, „...das Unwahrscheinliche gelingen, nämlich eine kranke und süchtige Masse von Verbrauchern wachzurütteln, eine sprach- und stimmlose Gesellschaft zum Sprechen zu bringen. Und das im Zustand einer Befangenheit, mit Wortführern, die selbst teilweise und unfreiwillig dem Slogan der Technokratie verfallen sind, dem Werbebild der Umweltfreundlichkeit, der Halluzination Entsorgung.“

Es ist trotz und wegen der professionellen Qualität, mit der Buch und Ausstellung gemacht sind, keine Freude, „Sein oder Nichtsein“ zu betrachten. So ähnlich muß sich der Vogel Strauß fühlen, wenn er den Kopf mal aus dem Sand zieht. Und ihm dann noch jemand sagt, daß der Sand giftig ist.

Die Ausstellungsmacher, das merkt man, wollen jedoch nicht nur Rufer in der Wüste sein — die sie uns da mit 800 Fotos eindringlich als Menetekel an die Wand malen. Sie wollen Roß und (apokalyptischen) Reiter nennen. „Die industrielle Zerstörung der Natur“ lautet der Untertitel, und in fast jedem Bild wird deutlich, daß es nicht allein num die Krise der Natur, sondern um die Krise der Kultur — der Industrie-Kultur geht. Hundertfach wird der Tod der Natur und die Zerstörung der Lebensgrundlagen dokumentiert. Luft, Wald, Berge, Wasser, Boden. Was ist das für eine Kultur, die zwar beim Bier für das Reinheitsgebot kämpft, aber bei Luft und Wasser Augen und Nase zumacht? 20 Millionen Menschen beziehen ihr Trinkwasser direkt oder indirekt vom Rhein, der als Atom-Kühler, Ab-Fluß, und „Vorfluter“ der Industrie Millionen Tonnen giftiger Stoffe in die Nordsee transportiert.

Wieviele Katastrophen, Bhopals, Sevesos, Tschernobyls brauchen wir um zu erkennen, daß unser Umweltdebakel planvoll vorbereitet wird? „...Von Geschäftsinteressen und Massenproduktion, von nationalen Konzernen und internationalen Verflechtungen, von Managern und Meinungsbildnern..von der Sucht nach Macht, Geld und Konsum..“ Aber es geht auch und noch mehr um die schleichenden Katastrophen und unsere Gewöhnung daran. Bäume sterben nun mal langsam. Wer guckt schon lange zu und so genau hin? Wer erkennt den Unterschied zwischen Landschaftskosmetik und gesundem Wald? Erst durch die klug angewandte Methode des Foto-Zeitraffers wird einem der schleichende Tod, das letzte „Aufbäumen“ plötzlich bewußt. Der tägliche Krieg gegen das Leben im Alltäglichen, die langsame aber sichere Vernichtung in Gebieten, die nur scheinbar weit weg sind: der Aral-See hat in den letzten Jahren durch gigantische Bewässerungsprojekte für die Baumwollfelder 40% seiner Fläche verloren. Die Pestizide für die Plantagen verpesten die Umwelt inzwischen derart, daß sich die Kindersterblichkeit verdoppelt hat. Ein „stummes Tschernobyl“.

Ein eigenes Kapitel ist den methoden der Industrie gewidmet: Energie, Chemie, Agrarindustrie, Verkehr, Müll, das schmutzige Geschäft. Schlaglichtartig wird der ganz normale Wahnsinn beleuchtet. Denn 40 und mehr elektrische Geräte pro Haushalt sind inzwischen wirklich ganz normal. 18 kg PVC verbraucht jeder Bundesbürger pro Jahr, 250.000 Tonnen davon landen jedes Jahr im Müll und werden unter Absonderung von Salzsäure und hochgiftigen Dioxinen verbrannt. Oder aber der Wunderkunststoff bleibt ( wie Fred Langer in seinem Beitrag beschreibt) mitsamt dem eingelagerten Chlor, Cadmium und sonstigen höchlichst ungesunden Additiven bei uns zu Haus „zwischengelagert“. Was später damit geschehen soll, weiß niemand. „Entsorgt ist allemal nur die chemische Industrie.“

Überhaupt, „Entsorgung“. Am Beispiel Meeresvergiftung belegt der Toxikologe Ottmar Wassermann die kriminelle Energie des wirklichen „Abschaums unserer Gesellschaft“. Skrupellose Unternehmer, die mit Unterstützung von Politikern, Wirtschaftspartnern und Wissenschaftlern ihre schmutzigen Geschäfte machen: globale Brunnenvergiftung irreparablen Ausmaßes. Wie der Sondermüll der Industriestaaten auch noch gewinnbringend in den armen Ländern „entsorgt“ wird, beschreibt Christiane Grefe in ihrem Horrorbericht „Gift für die Welt“. Und welche Perversionen die so aseptisch saubere Gentechnologie mit sich bringt, zeigt Sylvia Hamberger in ihrem Beitrag über „Maschinen-Mensch und Industrie-Natur“: „Was als Spielerei in Wissenschaftlerköpfen begann — und dann verkaufbar schien —, läßt die alte Welt in Gefriertruhen und Genbanken verschwinden“.

Gegenüber diesen und anderen engagiert geschriebenen Beiträgen des Katalogs bleibt das, was die Herausgeber im Ausstellungsteil „Die Chefetage“ zusammengetragen haben, merkwürdig blaß. Daß Geld die Welt regiert, die Werbung mit Ersatz-Natur arbeitet, Manager sich verkaufen und Umweltschutz zum Schlagwort der Kreidefresser geworden ist, solche Erkenntnisse allein stoßen die Verantwortlichen viel zu wenig mit der Nase in den Dreck, den sie produzieren, dulden oder zumindest nicht zu verhindern wissen. Sicher geht es nicht darum, nun die einzig Schuldigen in den Chefetagen zu suchen und den Normalverbraucher zu exkulpieren. Denn natürlich scheint „die Masse der Verbraucher mit der Masse der Waren zufrieden zu sein“, wie Wolfgang Zängl in seinem „Kleinen Versuch über die Industrie“ feststellt. Doch wer soll den von Peter M. Bode geforderten „Waffenstillstand zugunsten der Natur“ eigentlich schließen, wenn nicht jene, die die Macht dazu haben? Soweit sollte man mit dem Energiesparen nicht gehen, daß man auch das Feuer unter dem Hintern der industriellen Umweltverbrecher und ihrer Komplizen in Staat und Wissenschaft auf Sparflamme stellt. So richtig es ist, im „Industriesystem“ den eigentlichen Motor der Zerstörung zu identifizieren, so dringlich ist es, wie Wolfgang Lohback (Greenpeace) fordert, die Verantwortlichen beim Namen zu nennen.

Freilich: Millionen arbeiten in den Vergiftungs- und Zerstörungsindustrien, Milliarden kaufen, konsumieren ihre Produkte und schmeißen sie dann weg, ohne länger darüber nachzudenken. „Industrie im Kopf“ und „technomorphes Denken“ konstatiert Beate Seitz-Weinzierl. Die Forderungen für einen friedlichen Umgang mit der Natur (am Ende der Ausstellung gebündelt zusammengestellt) werden solange nicht erfüllt werden, solange diese Millionen und Milliarden nicht auch selbst Konsequenzen ziehen. Zum Beispiel durch die Weigerung, in solchen Industrien zun arbeiten. Die Arbeitsvermittlung für „saubere“ Computer-Jobs in England, über die Jerry Sommer berichtet, mag da eine Anregung sein. Aber solche und andere Formen des Widerstands setzen ein neues Verantwortungsbewußtsein und eine neue Moral voraus. An sie appellieren denn auch alle Autoren des Buches. Umdenken tut not, und ohne den etwas aus der Mode gekommenen Konsumverzicht (vielleicht ja auch: Konsumboykott) wird es bestimmt nicht abgehen.

Neues Denken also gegenüber dem, was uns bis jetzt doch eigentlich das Liebste war: die Ware als Glück und Schicksal. „Die Industrie stellt in der Hauptsache Vorformen von Müll und Sondermüll her: Ein Großteil ihrer Produkte darf zwar gekauft, aber eigentlich schon gar nicht weggeworfen werden“, schreibt Zängl. Wenn der Mensch, wie es scheint, sich erdgeschichtlich immer mehr auf ein nur noch Müll und Gift produzierendes Wesen reduziert, wird die Frage nach Sein oder Nichtsein vielleicht nicht einmal mehr von ihm selbst entschieden werden können. Quoth the Raven, „Nevermore.“

Sylvia Hamberger, Peter M. Bode, Ossi Baumeister, Wolfgang Zängl: Sein oder Nichtsein: Die industrielle Zerstörung der Natur. Raben- Verlag München, 1990. 252 S., 340 Vierfarbabb., 38 DM.

Die Ausstellung „Sein oder Nichtsein“ wird am 25.Oktober abends im Münchner Stadtmuseum eröffnet und dort bis zum Februar gezeigt. Anschließend wird sie durch Deutschland und das deutschsprachige Ausland wandern. Greenpeace unterstützt die Ausstellung.