: Thüringer Landtag: „Kinderlein, liebet Euch“
„Und wenn das nicht, achtet Euch“/ Mit Goethe kostituierte sich das Landesparlament in Weimar/ „Überall Trümmer“ und die ersten Tumulte/ Ohne gründliche Vergangenheitsbewältigung keine Zukunft ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Weimar (taz) — Den ersten Verstoß gegen die Kleiderordnung im neuen Landtag von Thüringen begingen nicht die Grünen und ihre Bündnispartner aus den Reihen des Neuen Forums (NF) und der Bewegung Demokratie Jetzt (DJ). Ausgerechnet der designierte christdemokratische Ministerpräsident des Landes, Josef Duchac (52), kam im grüngekörnten Straßenanzug zur feierlichen konstituierenden Sitzung der landeshoheitlichen Volksvertretung im legendären Nationaltheater in Weimar, in dem 1919 die Verfassung der ersten deutschen Republik konzipiert wurde. Die Galerie jedenfalls hatte ihren ersten „Skandal“ — und Duchac rutschte — umgeben von nadelgestreiftem, dunkelblauem Tuch — immer tiefer in den Theatersessel.
Dafür hatte das Parlament einen würdigen Alterspräsidenten. Der Suhler Komponist Siegfried Geissler (61) vom Neuen Forum predigte in seiner Eröffnungsrede „Toleranz gegenüber Andersdenkenden“ und die „Bewahrung der Kultur der gewaltfreien Revolution“. Der Landtag stehe bei all den Menschen in der Pflicht, die vor einem Jahr den Begriff von der Würde des Volkes „für Deutsche erfahrbar gemacht“ hätten. Auch müßten die Landtagsabgeordneten dem „kollektiven Verdrängungsmechanismus“ widerstehen, der sich heute auf dem Boden der Ex- DDR wie eine Seuche ausbreite: „Was in vierzig Jahren DDR geschah, geschah nicht gegen uns, sondern mit uns. Wir sind kein Volk von 16 Millionen Opfern.“ Und noch etwas schrieb Geißler den 89 Abgeordneten, von denen die meisten ein Parlament erstmals von innen sahen, ins politische Stammbuch: Demokratie könne vom Landtag nicht als administrativer Akt oder als martialische Lektion dem Volk erteilt werden: „Demokratie muß gelebt werden“.
Es gab viel Beifall für den Alterspräsidenten — doch zum Präsidenten des Landtages wurde ein anderer gewählt. Mit den Stimmen der koalitionswilligen Abgeordneten von CDU und FDP kürte der Landtag den Christdemokraten Gottfried Müller zum Vorsitzenden der Volksvertretung. Daß für den einzigen Gegenkandidaten, eben den Alterspräsidenten Geißler, nur ganze dreizehn Stimmen in der Wahlurne lagen, lag daran, daß die Oppositionellen in diesem Landtag Probleme mit dem Stimmzettel hatten. Exakt siebzehn falsch angekreuzte und damit ungültige Wahlbriefe sogten für den ersten Eklat im Landtag — und vermiesten Geißler den Achtungserfolg.
Daß Präsident Müller, der dem Kabinett de Maiziere angehörte, ein Landtagspräsident für „alle Thüringer und alle Abgeordneten dieses Hauses“ sein wollte und in seiner Eröffnungsrede ausdrücklich auch die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger des Landes in die „Heimat als staatliche Gestalt“ geistig integrierte, machte seine Wahl auch für die sechs Abgeordneten des grünen Bündnisses erträglich. Daß dem Bündnis von den Koalitionsparteien dann gestern aber ein Vizepräsidentenposten verweigert wurde, hat für den ersten Unmut im neuen Landtag gesorgt. „Kleinkariertheit“ warf Olaf Möller (Die Grünen) dem in die zweite Tagungsrunde gehenden Parlament schon am Donnerstag — zwischen Arbeitssitzung und Sektempfang — vor. Gewählt wurden ein FDP- und ein SPD-Mann.
Dafür, daß es bei der konstituierenden Sitzung nicht bei den Sonntagsreden blieb, hatte nach der Präsidentenwahl die Abgeordnete Christine Grabe gesorgt. Die Grüne rührte kräftig in der „Stasi-Wunde“ und kündigte an, daß ihre Fraktion solche „laschen Untersuchungen“ einer möglichen Stasi-Vergangenheit von Abgeordneten, wie sie in der Volkskammer üblich gewesen seien, im thüringischen Landtag nicht zulassen werde. Alle Akten aus der Zentrale in Berlin und aus den Bezirken müssten auf den Tisch des Hauses, denn ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit werde es in Thüringen keine Zukunft geben. Als Grabe dann die Ausländerfeindlichkeit auf dem Gebiet der Ex-DDR geißelte und die Waffenexporte deutscher Firmen in den Irak mit den Worten kommentierte, daß es „keine Schweinerei auf der Welt“ gebe, an der Deutsche nicht beteiligt seien, kam es zu den ersten Tumulten im Auditorium. Für die FDP hatte Grabe damit die „Würde des Hauses verletzt“ — und CDU-Fraktionschef Willibald Böck sprach der Grünen das Recht ab, moralische Urteile über Vorgänge in Gegenwart und Vergangenheit zu fällen, denn: „Wir alle haben uns schulig gemacht.“ Böck sah „überall Trümmer“ — in den Köpfen der Menschen, in den Landschaften „und selbst in der verdreckten Luft“. Christ- und Sozialdemokraten hatten ihre „Persilscheine“ übrigens schon zur konstituierenden Landtagssitzung mitgebracht: Böck verkündete: „Wir sind alle integer.“
Die „Integeren“ aus den Reihen der CDU werden sechs der insgesamt neun Ministerien des Kabinetts Duchac in Anspruch nehmen. Und Böck, der als „Mann für's Grobe“ gilt, wird Innenminister des Landes werden. Als der Bürgermeister von Bernterode scharf mit LiLi-PDS- Chef Klaus Höpcke abrechnete, brach das Auditorium in Beifallsstürme aus. Von einem, der als stellvertretender Kulturminister des SED-Regimes fungierte und als solcher für die Zensur verantworlich war, lasse sich dieses Parlament keine Lehrstunde in Sachen Demokratie geben, meinte Böck, „denn solche Leute haben uns hinter Mauer und Stacheldraht gehalten“. Höpcke, der für seine Partei eine „konstruktive Opposition“ im Landtag ankündigte, hatte sich zuvor auf die Heilige Elisabeth von Thüringen berufen und um „Versöhnung“ geworben. Als der PDS-Mann gar noch mit dem Goethezitat „Kinderlein liebet Euch — und wenn das nicht geht, achtet Euch“, aufwartete, brach der Landtag in schallendes Gelächter aus.
Aus allen Stimmungs- und Augenblicksbildern der konstituierenden Sitzung schälte sich im Verlauf des Tages dann aber doch noch der zentrale Konfliktpunkt der nächsten Wochen und Monate heraus: die Landesverfassung, die von den Koalitionsparteien noch nicht einmal als Entwurf vorgelegt werden konnte. Redner vom grünen Bündnis, von den Sozialdemokraten und auch von der PDS forderten eine Volksabstimmung über die Verfassung, die „selbstverständlich“ (Grüne) Elemente einer plebiszitären Demokratie enthalten müsse. Der designierte Innenminister Böck schwieg — und Josef Duchac, der „brave Mann“ aus Gotha, war beim Smalltalk auf dem Stehempfang nicht in der Verfassung, über die Verfassung zu sprechen. Als im Nationaltheater der Sekt in den Gläsern perlte und sich die Abgeordtenen „beschnupperten“, zogen andere an einem Haus am Goetheplatz ein Transparent hoch: „Die Landschaft wird nun überrannt, mit Plastik und mit Dosen. Oh Gott, Natur, du deutsches Land, das geht in deine Hosen!“ Und auf dem Spielplan des Nationaltheaters Weimar stand Mortimers Komödie „Das Pflichtmandat“.
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