Die Schrittmusterklöpplerinnen

■ Das belgische Tanztheater „Irene K.“ im Schlachthof: Wie man sich bei Tänzers schubst

Zwei Frauen, von ihren langen Haaren dramatisch umweht, zerren aneinander, es ist kein Loskommen, sind doch ihre Rockzipfel miteinander verknotet — gern stellt das Tanztheater Abhängigkeit durch Zerren und Schubsen dar. Das erkennen wir sofort wieder, denn wir machen das im Alltag genauso, alle Welt schubst sich, ich Sie auch.

Die belgische Compagnie „Irene K.“ widmete sich am Freitag im Schlachthof mit drei Tanzstücken vor allem der Flucht vor Bindungen. Leider fand die Choreographin Irene Borguet-Kalbusch nur allzu bekannte Zeichen und Bilder dafür: Da rennt eine mit Trippelschrittchen davon, die Arme vor der Stirn verschränkt, ach so: kopflose Flucht. Da geht eine zu Boden, ach so: jetzt geht es ihr schlecht. Doch die auf Linie getrimmten Zehen, wie passen

„Säcke voll Bewegungsmaterial schleppen sie heran, leeren sie aus und werfen das Gefundene in die Luft.“

die dazu? Bei Tänzers sind eben auch deprimierte Zehen kraftvoll und die Menschen immer schön.

Viel Hin und Her ist auf der Bühne, von den Schrittmachern Synthesizer und Schlagzeug vorangetrieben. So wie die zwei Lifemusiker Xylophone und allerlei Bleche erklingen und ganze Chöre jammern lassen, so schleppen die fünf Tänzerinnen und ein Tänzer immer neue Säcke voll Bewegungsmaterial auf die Bühne, leeren sie dort aus, werfen die Teilchen einmal in die Luft und lassen sie dann liegen. Auch Bodengekringel, Sprungtriller und sogar Fußtritte sind dabei.

Kaum haben die Gesten den Körper verlassen, zersplittern sie folgenlos im Raum. Es scheint für die TänzerInnen keinen Grund zu geben, sich so zu gehaben — außer es hat eine Choreographin sich so ausgedacht. Wie arme Atome rennen sie rum, müssen Gedanken darstellen, gewundene noch dazu. Nichts wird entwickelt, alles bleibt zeichenhaft — Buchstabentanz.

So ging das anderthalb Stunden lang, harte Arbeit und doch so langweilig. Nichts gegen die TänzerInnen: Mit ungeheurer Kondition und Präzision (viele haben wohl auch eine klassische Ausbildung durchgemacht) klöppelten sie das vorgegebene Muster. Allein, es entstand nur ein Schondeckchen für die rauhe Wirklichkeit. Mich dauert es immer, solch weibliches Basteln.

Kein Arm schwingt oder schlenkert gar, alles gehalten und unter Kontrolle — der kühle Stil des amerikanischen Choreographen Merce Cunningham ist nicht zu übersehen. Nur ganz selten bricht Lust durch: Eine lächelt die andere in Erwartung des Sprunges an; oder ein um und um sich schlingendes Paar — eines spürt sichtlich Nackenbeuge und Wadenrundung des anderen unter der Hand. Doch leider müssen die TänzerInnen dann gleich wieder irgendwas wahnsinnig Kostbares imaginär in den hohlen Händen tragen, es behutsam am Fuße eines Baumstammes bergen, denn der Baum steht für das Leben (nicht gewußt?).

Niemand verlangt vom Tanz „wichtige“ Themen und Botschaften, dieser Legitimation bedarf das Tanzen nicht. Gebt die Tanzlust zu, hätte man den TänzerInnen zurufen mögen, oder auch die Qual, sich zu bewegen. Christine Holch