Einigkeit und Recht und Freiheit...

Wie man in der „Zigeunerfrage“ an einem Strang zieht  ■ Von Gabriele Golttle

Deutschland ist nun wieder Herr im eigenen Reich. Die Gleichschaltungsfeierlichkeiten hatten die dem Anlaß gemäße Würde, mit „des Glückes Unterpfand“ wolle man nicht wieder Schindluder treiben wurde versichert, vielmehr werde man sich ganz aufs „Blühen“ konzentrieren. Einfühlsam, wie der Wolf spricht, wenn er den Wanst voller Kreide hat, erläuterte der Bundespräsident in seiner Festrede den Charakter und die Aufgabe der neugeborenen Nation. Man lebe „im Kreise der westlichen Demokratien“ und strebe „eine möglichst schnelle Herbeiführung einer gesamteuropäischen Vereinigung“ an. Dabei wolle man die „Schlüsselrolle“ übernehmen. Hier spätestens müssen die Ohren klingeln, wenn mit tausendmal abgegriffenen Worten mitten im Festakt verlautbart wird, man gedenke, sich die osteuropäischen Märkte zu sichern.

Daß man im Ausland beunruhigt ist oder die Vereinigung gar ablehnt, wird hierzulande ignoriert. Vertreter von Rechts bis Grün versichern der internationalen Presse, Deutschland sei heute ein freiheitlich demokratisches Land, von dem keine Gefahr mehr ausgehe. Man strebe nichts weiter an als friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit. Dazu gratulieren ganz besonders herzlich jene Länder, die es zwar aus eigener Erfahrung besser wissen, aber nun zu arm sind — oder zu arm sein werden — um den künftigen Brotherrn die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ frohlockt, von nun werde es nur noch „Frieden, Wohlstand und Stabilität geben für das deutsche und sowjetische Volk, für Europa, für die ganze Weltgemeinschaft“. Deutschland hat aus der Geschichte gelernt. Insbesondere, daß auch andere Mittel als die der nackten Gewalt den alten Zweck erfüllen können. Daß deutsche Wirtschaftsmacht ebenso zielsicher einschlägt wie ehedem die „V2“. Daß man Waffen und Giftgas klugerweise verkauft, statt sie selber umständlich anzuwenden. So kann man zivilisiert und gesittet seinen Geschäften nachgehen ohne die Sorge, dabei vielleicht den Feind aus den Augen zu verlieren. Lediglich den Opfern des Faschismus ist klar, daß dieses Deutschland nach wie vor alle untrüglichen Kennzeichen der Gemeingefährlichkeit aufweist. Ihnen bringt man in neuer Tateinheit wieder die Flötentöne bei, für die Verbrechen der Nazis soll haften, wer Schuld war. Die bescheidene Bitte, daß in der Präambel zum Einigungsvertrag auch der Völkermord Erwähnung finden möge den Deutsche planten und ausführten — und das Gedenken an die Opfer, die Achtung vor ihnen und den Menschenrechten — wurde kommentarlos übergangen. Mit diesem „unerfreulichen Kapitel deutscher Geschichte“ will man sich nicht gleich das Leben schwermachen lassen. Auschwitz? Schwamm drüber!

Zuallererst sollen jetzt einmal die Menschenrechte der Ostdeutschen Beachtung finden, so lautet das Gebot der Stunde. Denn schließlich haben sie unter den Kommunisten so viel Leid und Schrecken erlitten, daß auch das fast an Auschwitz grenzte. Ihnen muß geholfen werden, wirtschaftlich und rein menschlich, da bleibt für artfremde Hilflosigkeit kein Rest übrig. Weder für russische Juden noch für die Verfolgten anderer Länder. Schon gar nicht aber für die — schon vor fünfzig Jahren rassekundlich als Schmarotzer beforschten — Zigeuner. Sie kommen als „Roma-Welle“, wie der 'Spiegel‘ formuliert, „radebrechend“, so 'Konkret‘, in unser Land und wollen nur das Eine.

Darum hat auch der Bundesrat sich zuallerst mit dem Antrag auf Änderung des Asylrechts zu befassen. Oskar Lafontaines Vorschlag, den Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) unter einen Gesetzesvorbehalt zu stellen, hat die Zerstörung des Asylrechts gesellschaftsfähig gemacht. Die rechtsverbindliche Festlegung, daß in bestimmten Staaten „nach allgemeiner Überzeugung keine politische Verfolgung stattfindet“, würde dann zur Folge haben, daß Flüchtlingen aus diesen Ländern automatisch die Asylberechtigung fehlt. Sie kämen also gar nicht erst dazu, auch nur einen Antrag zu stellen. Das entlastet den bürokratischen Apparat, die öffentliche Hand, dient dem Vorwärtskommen im Wahlkampf.

In der Zukunft würde dann gelten, daß in Rumänien, Jugoslawien, Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei „nach allgemeiner Überzeugung“ unserer Politiker „keine politische Verfolgung stattfindet“. Will man einmal davon abesehen — was ja der Fall zu sein scheint — daß nach „allgemeiner Überzeugung“ der Roma und Sinti ihre Menschen von Deutschen verfolgt, erschlagen und vergast worden sind ohne jeden Grund, dann bleibe immer noch ein weiteres Argument gegen die Lafontainsche Konstruktion: Wenn nämlich Zigeuner in Deutschland, einem Land das an ihnen nicht weniger als einen Völkermord „wiedergutzumachen“ hätte, verfolgt und behandelt werden wie der sprichwörtlich letzte Dreck, wie erst wird man sie dann in ihren „Heimatländern“ behandeln?

Bis es soweit ist, schaffen Bürger und Ordnungskräfte mit wiedervereinigter Schlagkraft die Probleme provisorisch aus dem Weg. Und man kann schwer entscheiden, wer diese Aufgabe besser bearbeitet, der sozialistisch erzogene Mensch oder der Kapitalist. Deutsche demokratische Volkspolizei nahm nach einem Überfall der Neonazis auf den Bahnhof Berlin/Lichtenberg die gute Gelegenheit wahr und räumte knüppelnd das gesamte Bahnhofsgebäude. Von Skinheads und von deren Opfern, den obdachlosen Roma-Familien, die dort seit Wochen auf dem nackten Boden der Schalterhalle nächtigen.

Wo die DDR-Neonazis noch kostenlos tätig werden, müssen westdeutsche Bürger, denen die SA fehlt für den Ersatz, schon ein wenig in die Tasche greifen. Fünftausend Mark sollen, laut 'Spiegel‘, Essener Bürger bezahlt haben fürs Terrorisieren der Roma. Von solchen Ausnahmen abgesehen, finden sich in allen deutschen Städten immer genug Freiwillige, die nachts Zelte und Wohnwagen der ungebetenen Gäste mit Benzin übergießen und anzünden. In Königs Wusterhausen trat den Bürgern der Schaum vor den Mund, als die örtliche LPG eine volkseigene Wiese vorübergehend als Rastplatz für westdeutsche Sinti zur Verfügung stellen wollte. Die alten Frauen, die im 3.Reich gelernt haben, was zu tun ist, nahmen die Wäsche ab, sperrten die Kinder ins Haus und die Tiere. Die Königs Wusterhausener protestierten solange vor dem Gemeindehaus, bis die Sinti den ungastlichen Ort verließen.

In Nordrhein-Westfalen und im Saarland entsteht angesichts „der Zigeunerflut“ besonders viel böses Blut. Arm in Arm gehen CDU, SPD, Pfaffen, Bürgerinitiativen, Lehrer und Schüler aus Bottrop oder Bad Salzuflen auf die Straße, protestieren und machen Sitzblockaden gegen die „Überfremdung“ ihrer Stadt. Eltern, Lehrer und Schüler von den staatlichen bis hin zu den Waldorfschulen erklären, mehr oder weniger offen, daß sie die kleinen Analphabeten, Schmutzfinken und Langfinger nicht in ihrer Klassengemeinschaft dulden werden. Bürgermeister versprechen ihren Bürgern Abhilfe und Landesherren gar, wie Oskar Lafontaine, Lösungen. Der sozialdemokratische Hoffnungsträger macht sich zum Anführer von Bürgerwehr und Volkssturm, um gegen eine verschwindende Minderheit von Roma anzutreten, die in großer Armut lebt und nicht einmal in Deutschland bleiben will. Damit sich daran auch nichts ändert, beschloß man, ihnen nur noch „Sammelverpflegung“ auszuhändigen, statt Bargeld. Einkaufen hätten sie ja schließlich doch nicht können vielerorts. Lebacher Geschäftsleute z.B. hielten ihre Läden geschlossen, aus Protest gegen das Zigeunerpack. Heutzutage heißt es bei uns nicht mehr „Bürger, kauft nicht bei Juden!“, sondern: Bürger, verkauft nichts an Zigeuner! Und weil zu Antisemitismus und Rassenhaß auch die hysterische Angst vor einer „Durchseuchung des Volkskörpers“ mit ansteckenden Krankheiten gehört, haben Lebacher Bürger um ihr öffentliches Schwimmbad herum einen Stacheldrahtverhau gezogen, damit die dunklen Gestalten nachts nicht einsteigen und ihre Keime hinterlassen können. Man findet es ja schon schlimm genug, wie sie tagsüber herumlungern, die bürgernahen Anlagen verschmutzen und überhaupt, schon vom Aussehen her, dringend verdächtig sind, Straftaten wie Betrug, Diebstahl, Vergewaltigung und Mord zu begehen. Sie passen einfach nicht in unser Straßenbild.

Die Gefährdung des Einkaufs- und Badeerlebnisses, als Deutscher unter Deutschen, kommt einem Anschlag auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung gleich. Daß der fremdrassige Kunde dann auch noch keck, mit unserem Geld in der Tasche einkaufen gehen darf, muß unterbunden werden. Eine angemessene Wegzehrung erfüllt auch ihren Zweck. Verantwortungsvolle Politiker haben erkannt, wie wichtig es ist, jede Provokation zu vermeiden. Denn wenn der an sich gutmütige Deutsche erst einmal die Beherrschung verliert, dann kann er seinen Vergasungswunsch nicht länger unterdrücken, angesichts all der Massen, die unbefugt bei ihm eintreten. Leuten, die nicht nach einer altdeutschen Schrankwand, einem fünfflammigen Leuchter, der Sitzecke, dem Panoramafenster mit Blick auf den eigenen Trittrasen zwischen den Krüppelkoniferen, einem neuwertigen Mittelklassewagen und dem Treffer im Lotto lechzen, werden wohl bald wieder die Ohren vermessen. Wer der Meinung ist, daß Lohnarbeit, gar industrielle Lohnarbeit, eine Schande für die ganze Menschheit sei, der soll auch nicht essen. Ein hergelaufenes Volk, das in den letzten tausend Jahren alle Energie und Sorgfalt auf die Pflege der eigenen Sprache, Kultur und Überlebenskunst verschwendet hat, statt, wie es der Brauch ist wenn Heimat, Geschichte und Kultur entstehen sollen, sich mit Eroberungskriegen, Kreuzzügen, Brandschatzung, Unterjochung, Gewalt und Herrschaft herumzuschlagen, solch ein Volk bleibt am Ende mittellos und heimtlos. Bleibt fremd und einsam, Nomaden ohne Herde.

Das Dilemma der Zigeuner ist von existenziellem Ausmaß, denn einerseits sehnen sie sich nicht nach einer gesicherten bürgerlichen Existenz in der alles nach der Uhr geregelt ist, andererseits aber sehnen sie sich freilich auch nicht nach Armut, Hunger, Krankheit, polizeilicher Verfolgung und sozialer Ohnmacht. Das dazwischen kein Platz bleibe, schon gar nicht für ein fremdes anarches Volk, dafür würde gründlich gesorgt. Daß Roma, Sinti, Kaldera, Gitanos u.a. Gruppen sich dennoch den unbequemsten Weg wählen, macht sie noch exotischer. Und das ist es auch, was den Bürger so gegen sie aufbringt. Dieser Mangel an Anpassungsfähigkeit und Bescheidenheit. Diese unverwüstliche Lebenslust auch noch unter den barbarischsten Bedingungen. Daß „der Zigeuner“, selbst aus der Gosse heraus noch, anmaßend ist und nicht bereit, die Beine einzuziehen, kann man weder verstehen noch verzeihen. So beispielsweise im Falle jener alten Frau die mit ausgestreckten Beinen mitten auf dem Bürgersteigt vor dem Kaufhaus saß, um Almosen zu sammeln. Neben ihr lag ein etwa vierjähriger Junge auf dem Boden und schlief. Die zart gerötete Kinderbacke ruhte im Schmutz auf dem grauen Beton und erregte weder Mitleid noch Sorge. Die Barbaren gingen vorbei, ohne zu bezahlen. Überhaupt, dieser Umgang mit den Kindern empört den Bürger, und selbst ansonsten wohlmeinende Grüne finden es unmenschlich, daß Roma-Mütter ihre Kinder zum Betteln oder gar Stehlen anhalten, egal, ob die noch im Vorschulalter sind oder nicht. Ganz vergessen ist der hierzulande weitverbreitete und auch den grünen bekannte Brauch, sein eigen Fleisch und Blut durchzuficken vom Säuglingsalter an aufwärts. Für Zigeuner vollkommen unvorstellbar, wie viele andere Sitten und Bräuche der Deutschen auch. Sie befinden sich beispielsweise lediglich im Gefängnis — und das in der Regel auch nur wegen kleinerer Eigentumsdelikte — niemals aber in Altersheimen, Waisenhäusern und der Psychiatrie. Für Hilfsbedürftige sorgt man selbst.

Aus der Sicht von Sinti und Roma ist es auch seltsam, daß, kaum hat der erste Urlaubstag begonnen, die Deutschen mit Auto und Caravan fluchtartig ihr Land verlassen. Andere wiederum lassen sich durch Schlepporganisationen wie Neckermann und Tigges über die Grenzen nach Griechenland, Italien, Spanien und Portugal schleusen. Ganz egal scheint zu sein, wohin man fährt, nur weg wollen alle. Da fragen sich die, denen man vorwirft Scheinasylanten zu sein und sich nur ein bequemes Leben bei uns machen zu wollen, natürlich, wie es damit bei den Deutschen aussieht. Was hält sie eigentlich in diesem Land? Weshalb bleiben sie, wenn es ihnen anscheinend woanders insgeheim besser gefällt? Weshalb also wollen sie ausgerechnet in Deutschland leben, wenn nicht der materiellen Vorteile wegen, die ihnen ein besseres Leben bescheren, als sie es in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal hätten. Der geltenden Logik nach müßte es doch ein Ausweisungsgrund sein, wenn einer nur zum Schein den Staatsbürger vortäuscht.