Die Partei des demokratischen Gysiismus

■ Die Parteibasis bittet den Genossen Gregor um Absolution von Geschichte und Gegenwart

Die treuesten der Treuen waren schon um neun Uhr morgens in die ehemalige Parteihochschule gekommen, an der einen Hand die Kinder, an der anderen ein eilig bemaltes Bettlaken mit der Aufschrift „Gysi, wir brauchen Dich, laß uns nicht im Stich“. Wachsbleich und wortkarg ist er an ihnen vorbeigelaufen zur Sitzung des Parteivorstandes. Jetzt sitzen sie mitsamt Transparent in der Cafeteria und warten auf die Bulletins von Parteisprecher Harnisch — Exitus oder erfolgreiche Wiederbelebung?

Nach ein paar Stunden wird die Sitzung öffentlich im Hörsaal weitergeführt. „Mein Rücktrittswunsch“, sagt Gysi, „ist nicht meine Privatsache. Ich will das jetzt mit euch diskutieren.“ Vor dem Hörsaal sammeln ein paar Spartakisten Unterschriften für die Freilassung der Genossen Pohl und Langnitschke. Drinnen sitzen die Leute wie eine von Schicksalsschlägen geschüttelte Kirchengemeinde deprimiert und gleichzeitig diszipliniert in den Reihen und warten darauf, daß er seine Rücktrittsdrohung entweder zurücknimmt oder wenigstens entschärft. Das und die Frage: Steht er das durch? bestimmen die Atmosphäre im Saal. Jawohl, psychisch mitgenommen sei er schon, sagt Gysi. „Und das wird mich vielleicht in den Fähigkeiten beeinträchtigen, die mich bislang ausgezeichnet haben.“ Da schwingt schon wieder ein bißchen Koketterie in der Stimme — und die Basis atmet auf.

„Bisher konnte man der PDS nur vorwerfen, daß sie mal die SED war“, sagt Gysi, „jetzt kann man ihr selbst etwas vorwerfen.“ Nach diesem Satz ist für Sekunden kein Laut zu hören, weil jeder weiß, was es bedeutet: Man kann jetzt auch ihm, bislang die personifizierte Integrität, etwas vorwerfen. Doch eine kritische Debatte über das Finanzgebaren der Funktionäre oder gar über die Option der Selbstauflösung der Partei findet an diesem Tag nicht statt — kann gar nicht stattfinden, weil bis zum Abend Gysis Rücktrittsdrohung alles andere erdrückt. Statt einer offenen Auseinandersetzung wird kollektiv gebüßt. „Wir haben Fehler gemacht“, resümieren fast alle RednerInnen ehrlich erschüttert. Von einem „radikalen Schnitt“ und „rückhaltloser Aufklärung“ ist immer wieder die Rede — und von den Verfehlungen der Genossen Pohl und Langnitschke.

Wer büßt, erhält Absolution — und die kann nur einer erteilen: Gregor Gysi. „Vielleicht erneuern wir uns jetzt radikaler und schneller, als wir das sonst getan hätten“, sagt er, und da wagen die ersten wieder verhaltenen Beifall. Was die paar hundert Leute in diesem Hörsaal zusammenhält, ist nicht nur der fast verzweifelte Wunsch nach „linker Identität“ oder der ebenso verzweifelte Glaube an die Erneuerung der Partei. Spätestens jetzt, angefeindet von Medien und von den anderen Parteien, herrscht eine Stimmung wie in der Diaspora. „Wir können uns verhalten, wie wir wollen“, sagt Gysi, „die Welt wird uns nie lieben. Selbst wenn wir die ehrlichste linke Partei überhaupt wären.“ Andrea Böhm