Kunst kommt vor oder von Erziehung

■ »Kunstpädagogische Projekte« an der HdK und »Schule und Krieg« im Kommunalen Museum Wilmersdorf

In der Grundschule wurde gelehrt, Malen hieße, mit dem Stift nicht »über den Rand hinaus« zu schmieren. In der fortführenden Schule war alles schon zu spät, der Kunstunterricht die Stunde, in der es sich am leichtesten blaumachen ließ.

Der Verschüttung des Spaßes am eigenen Schaffen so früh wie möglich entgegenwirken will Stefan Brée. Der 36jährige HdK-Student des Fachbereichs 6 für Kunstpädagogik war sieben Jahre lang Erzieher gewesen. 1986 entschloß Brée sich, mit seinen Kunstpädagogischen Projekten durch Berliner Kindertagesstätten zu ziehen. Die Ergebnisse dieser dreijährigen Phase sind nun in der Schöneberger Hochschule der Künste zu sehen.

Es hatte Brée einige Mühe gekostet, die zuständigen Behörden und die ErzieherInnen davon zu überzeugen, daß eine Störung des Kita-Alltags durch mehrere Wochen dauernde Kunstprojekte nicht nur Chaos, Schmutz und erhöhte Unfallgefahr bedeutete. Vielleicht klang auch sein Ansatz etwas ökotopisch: »Das, was wir unseren Kindern vermitteln können an sozialem Verhalten, kreativem Denken und Handeln, hat uns die moderne Welt zunehmend abgenommen«, umreißt Brée im Katalog zur Ausstellung den Hintergrund seines Vorhabens. »Die modernen ErzieherInnen sind heute Computer, Videorecorder, Comicfiguren, neue Medien und eine schillernde, konsumorientierte Warenwelt, die die Kindheit schon längst als wichtigen Eckpfeiler in ihre Marktstrategien einbezogen hat. Die Geschwindigkeit sozioökonomischer Prozesse zwingt die Gesellschaft in vielen Bereichen zum Umdenken oder Neuerschaffen. Unsere Bildungs- und Erziehungswesen hinken der Entwicklung hinterher. [...] Wir bekommen jedoch nur von unseren Kindern zurück, was wir auch eingezahlt haben, egal wie hoch die Zinsen sind.«

Was so larmoyant klingt, als sehnte es sich nach vermeintlich heilen Zeiten zurück, läßt sich auf einen praktischen Nenner zusammenkürzen. Die Kinder, die an Brées Kunstpädagogischen Projekten teilnahmen, sollten lernen, daß ihre Umwelt nicht ein diffuses Angebot von stets changierenden Reizen ist, sondern daß sich die Dinge gestalten lassen, der einzelne allein und in der Gruppe die Umgebung formen kann. Die gestalterische Umsetzung eines Themas lag ganz in den Händen der Kinder. Die Materialien wurden nicht vorgegeben, sondern mußten von ihnen selbst ausgewählt und organisiert werden. Wie schnell und in welche Richtung das Werk dann wuchs, wer wieviel Arbeit leistete — Freiwilligkeit war oberstes Prinzip —, zeigte erst der Prozeß des Entstehens selbst.

Höhlen aus Müll, Zoos aus Lehm

Auf diese Weise wurden in der Kita Köpenicker Straße in Neukölln drei meterhohe Totempfähle geschaffen aus Schrott, alten Schuhen und dem, was sich sonst an Zivilisationsabfällen in der Nähe einer Kindertagesstätte finden läßt. Vorausgegangen waren dem Schöpfungsakt Besuche einer Ausstellung über Hopi-Indianer und im Völkerkundemuseum Dahlem, die die Kinder an das Leben, die Arbeit und die Formensprache »der Naturvölker« (Katalog) heranführen sollten. Zurück in ihren Städten malten die Kinder zunächst große Totempfähle auf Papierbahnen. Als Schablone dienten ihnen ihre eigenen Körper. Filme über Indianer und Videomitschnitte des eigenen Tuns sollten sie ihr Schaffen immer wieder überdenken lassen. Zur Montage der Monumente schließlich stand ihnen alles Werkzeug zur Verfügung, was sich auch im Hobbykasten eines jeden Erwachsenen finden läßt. Arbeitsunfälle gab es offensichtlich nicht. Die Totems der Neuköllner schmückten dann ihren Spielplatz, beeindruckend groß, an wildwüchsige Dada-Geschöpfe erinnernd. In anderen Tagesstätten wurden Höhlen aus Müll, Zoos aus Lehm gebaut, Gesichter aus der Werbewelt zu einem neuen Bild vom Menschen zusammengestellt, eine Brandwand gestaltet.

Die Ergebnisse der Projekte sind eine dinggewordene Explosion kollektiver Energie und haben nichts gemein mit den DIN-A3-Bildchen, auf denen Kinder sonst ungelenk mit Filzstift Sonne, Haus, Blume und Baum aufstellen. Sie sind metergroß, sehr farbig und von verblüffender Ausgewogenheit in ihrer Komposition, als hätte ein kunstgeübter Kopf die Proportionen errechnet. Beunruhigend wirken sie zudem, weil in dem Recyclement die Welt der Erwachsenen fremd gespiegelt wird: in Schuhen, verschlissen und verschwitzt, in abgerissenen Regenschirmen, wilden Buchstabenkombinationen und in erotischen Signalen, die ins Leere brüllen. Die Skulpturen und Bilder überwältigen nicht zuletzt wegen ihrer musealen Inthronisierung im Foyer der HdK. Vom Ort des Enstehungsprozesses getrennt, verbreiten sie hier eine Atmosphäre, wie sie in jedem Museum moderner Kunst herrscht.

Das dialektische Prinzip

Wie sehr der Wille zum Ausdruck mit den Jahren von Erziehung und Sachzwängen in geordnete Bahnen gelenkt wird, zeigt das Kommunale Museum Wilmersdorf. Dort stellen derzeit SchülerInnen der neunten Klasse der Wilmersdorfer Rathenau- Schule ihre Forschungsergebnisse aus dem Geschichtsunterricht aus. Thema der kleinen Werkschau ist das Kriegerdenkmal, das die Schule seit 1922 verunziert, ein Steinquader, auf dem die Namen ehemalier Schüler des Realgymnasiums verzeichnet sind. »Pro Patria« starben sie im Ersten Weltkrieg. Über den Namen lümmelt ein nackter Soldat, der in seinem athletischen Körperbau, dem kantigen Gesicht und dem Stahlhelm nationalsozialistische Ästhetik vorwegnimmt.

SchülerInnen und Eltern war der Koloß schon lange ein Dorn im Auge, und in der Zeit, als Frieden aktuell war, gab es Proteste der Schülervertretung, die auf einen Abriß des Denkmals drängte. Auf Anregung ihres Geschichtslehrers begann die neunte Klasse im Frühjahr dieses Jahres, den Leben nachzuspüren, die sich hinter den eingemeißelten Namen verbergen, und sie in den historischen Kontext einzuordnen. Schnell stieß sie dabei auf die Frage, welche Schuld die eigene Lehranstalt an der Kriegsbegeisterung ihrer damaligen Schüler trug.

Fotos wurden gesammelt von Jungen, die in Uniform posieren, vom Sportunterricht, der den militärischen Drill üben und die Schüler über Hindernißwände springen ließ. Auch die alten Prüfungsthemen kamen wieder ans Tageslicht: In Besinnungsaufsätzen mußten die Abiturienten begründen, warum der Tod fürs Vaterland der schönste sei. Selbst die Physikaufgaben beschäftigten sich mit der Flugbahn einer Granate. Die Schüler ließen sich anstecken, das Strammstehen war ihnen schon mit der Einschulung beigebracht worden. Feldpostbriefe zeugen von Schicksalsergebenheit oder von dem Stolz, daß nach dem Vater auch der Sohn im Feld sterben darf. Einer schrieb sogar ein »Weihnachtslied«: »Zu Hause weinen Mädchen und Frauen/ Sie weinen/ Sie werden nicht jeden wiederschauen/ die schönen, die lieben, die reinen./ Deutschland, wir lieben dich mehr als die Welt/ Deutschland, wir sind zu sterben bereit/ Soldatenlust, Soldatenleid.«

Mit vermeintlich wissenschaftlicher Objektivität

In ihrer ersten Fassung für den schulinternen Gebrauch hatte sich die Ausstellung auf das Aufspüren der Biographien beschränkt. Die Walther-Rathenau-Schule war ein Jungengymnasium gewesen — unter Teilnahme der Oberstufe wurde für die Museumsfassung dann noch die Erziehung der Mädchen aufgenommen. Die strickten »Liebesgaben« für die Brüder im Feld. Leibwärmer und Fäustlinge, und Journalistinnen berichteten in gerührten Worten von dem emsigen Treiben hinter der Front. »Fräuleins« kamen, um die im Schützengraben stehenden Lehrer zu ersetzen, doch die höheren Stellen blieben weiter den Männern vorbehalten. Der letzte Teil der Ausstellung schließlich beschäftigte sich mit der Einweihung des Denkmals. Zur Enthüllung ließ der Direktor streng nach Protokoll patriotische Lieder singen: Das Vaterland war auch nach der Niederlage das Größte. Die BesucherInnen des Kommunalen Museums dürfen weiter folgern: Schlechte Verlierer ziehen neue Soldaten heran.

Aus den SchülerInnen der neunten Klasse könnten gute HistorikerInnen werden. Arbeitsfrage und These sind klar herausgearbeitet. Die Ausstellung beweist ausführlichstes Quellenstudium, sie ist gründlich, sachlich und kopiert die vermeintliche Objektivität von Wissenschaft. Doch sie endet genau dort, so Stefan Brée mit seiner ansetzt — an der Umsetzung der eigenen Kreativität. Zwei knappe Geschichtsstunden in der Woche und keine Möglichkeit, mit anderen Unterrichtseinheiten interdisziplinär zusammenzuarbeiten, beschränken das Vorhaben von vornherein. Die SchülerInnen ließen sich zudem auf den Termindruck des Kommunalen Museums ein, und so findet sich in dessen Räumen nun eine Aneinanderreihung von Stellwänden, auf denen das gefundene Material ordentlich aufgespießt wurde. Einziges gestalterisches Element im Raum sind eine alte Schulbank und eine Tafel, auf die das pubertäre Soldatenlied geschrieben wurde.

Was die SchülerInnen hier unterließen, machen sie jedoch an anderer Stelle wieder wett. Von der Beschäftigung mit dem Denkmal angeregt, hat sich eine Arbeitsgemeinschaft gebildet. Zusammen mit der Grzimek-Schule Wilmersdorf, an der ein ähnliches Zeugnis soldatischen Denkens steht, veranstaltet sie im November eine Diskussion zum Thema. Am 2. Dezember schließlich wird gemeinsam gegen die Kriegermäler demonstriert. Claudia Wahjudi

Stefan Brée: Kunstpädagogische Projekte. Grunewaldstraße 2-4, Berlin 62. Bis zum 2.11. Mo. bis Sa. von 14 bis 19 Uhr.

Schule und Krieg. Hohenzollerndamm 177, Berlin 31. Bis zum 13.11. Mo., Mi. und Fr. von 10 bis 14, Di. und Do. von 14 bis 18 Uhr