»Wenn der Kanzler dem Penner in die Augen schaut«

■ Gespräch mit dem sozialpolitischen Sprecher der AL, Michael Haberkorn, über den Regierungssitz Berlin — und dessen verheerende Folgen

taz: Können sich Sozialhilfeempfänger, Rentner und Selbsthilfegruppen von Berlin als Regierungssitz eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen?

Haberkorn: Der Regierungssitz hat überhaupt nichts damit zu tun, ob sich die Sozialleistungen erhöhen oder nicht erhöhen. Wenn man den Regierungssitz damit in Verbindung bringt, daß wesentlich mehr Geld in die Stadt fließt, könnte man theoretisch auch glauben, daß das Geld den sozial Schwachen zugute kommt. Aber — so werden meiner Ansicht nach keine Entscheidungen über soziale Mindestsicherungen getroffen.

Berlin muß aber damit rechnen, daß diverse finanzielle Zuflüsse nun peu à peu versiegen. Wie sollen die Lücken gefüllt werden?

Die Frage der Überlebensfähigkeit der Stadt stellt sich generell, ob dies nun über den Regierungssitz geklärt wird oder nicht. Und da ist Berlin schon jetzt unheimlich begehrt, was die Investitionswilligkeit von auswärtigen Unternehmen betrifft. Die kümmern sich überhaupt nicht um die Frage des Regierungssitzes, Berlin wird attraktiv als Ausgangspunkt für Osteuropa. Weder Wirtschaftssenator Mitzscherling noch Bausenator Nagel beschweren sich über mangelnde Investoren, vielmehr sagen alle, daß schnelle Entscheidungen über Grundstücksvergaben getroffen werden müssen, weil die künftigen bauwilligen Investoren bereits vor der Tür stehen. Und von diesen Investoren hängt letztendlich ab, ob die Stadt zu Geld kommt, und davon ist abhängig, was sich die Stadt an sozialen Hilfen leisten kann. Ob sie es schafft, das Niveau zu halten und nicht zurückzufallen. Gelder, die durch den Regierungssitz zusätzlich in die Stadt flössen, wären gebundene Gelder, gebunden an Ausgaben, die der Etablierung von Ministerien dienen.

Wie könnte ein Szenario von Berlin als Regierungssitz aussehen?

Was kommunale Strukturen betrifft, wird es wesentlich mehr Fremdbestimmung geben sowohl was Stadtplanung als auch generell das Stadtleben betrifft. Regierungssitz und Ministerien heißt: die Stadt in permanenter Hochsicherheitsstufe. Und: Die um die diversen Ministerien liegenden Bannmeilen verhindern eine normale Demonstrationskultur. Weil Regierungssitz und Hauptstadt mit Glanz zu tun haben, wird alles, was nicht glänzt, marginalisiert. Der viel wichtigere Punkt ist, daß die Regierung Zigtausende Bedienstete nach sich zieht, die irgendwo untergebracht werden müssen. Wenn außerdem Berlin zum Dienstleistungszentrum ausgebaut wird und sich Industrie wie Gewerbe mehr ins Umland verteilen, kommt eine recht einkommensstarke Schicht in die Stadt. Es kommt dadurch zu einen Verdrängungswettbewerb zwischen Arm und Reich.

Das wäre ja ein Anlaß, die Mietpreisbindung wieder einzuführen.

Das ist ein Wolkenkuckucksheim: Die Preise steigen schon jetzt in der Innenstadt, und dann möchte ich den sehen, der hier die Mietpreisbindung einführt. Bestimmte Stadtteile wie Charlottenburg oder Schöneberg sind für die meisten schon nicht mehr bezahlbar und damit auch nicht mehr bewohnbar. Das Prinzip Hoffnung, wonach die Reichen nach außen drängen und den Armen die Innenstadt vorbehalten bleibt, ist durch nichts begründet.

Nach Angaben von Sozialsenatorin Stahmer gibt es genug Platz für wesentlich mehr Wohnungen sowie Gewerbeansiedlungen unter Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte.

Es gibt von keiner Seite, weder von Nagel noch von Schreyer, eine umfassende Stadtplanung, die die Olymischen Spiele, die Hauptstadtfrage und/oder den potentiellen Regierungssitz und die Konsequenzen aus einer Ansiedlung von Dienstleistungszentren miteinbezieht. Da waren immer nur Bruchstücke, aber niemals Visionen, die sich auch mit sozialen Auswirkungen beschäftigten. Statt dessen pflegt zur Zeit jeder seine Lieblingsprojekte: Der Hauptstadtplaner von Nagel will Hochhäuser wie das World Trade Center in New York und ganz viele Ansiedlungen in der Stadt, sagt aber nicht, ob die sich auf eine einheimische Arbeitsmarktstruktur stützen können oder ihre personelle Infrastruktur mitbringen müssen. Schreyer sagt, Berlin soll sternförmig wachsen, damit eine Kultur zwischen Wohnen und Grün erhalten bleibt, will auch Gewerbe hier haben. Aber sie sagt nicht, wie und auf welchen Grundstücken sich Dienstleistungszentren niederlassen können. Jeder hat seine Kisten im Kopf, aber keiner weiß, was mit welchen Auswirkungen miteinander vereinbar ist.

Ist der forcierte Kampf von Momper und Schwierzina für den Regierungssitz also Torschlußpanik?

Nein, ich kann ja verstehen, daß durch die Angst, eine solche Stadt zu finanzieren, auf Deubel komm raus versucht wird, alles herzuziehen, was Geld verspricht. Und wenn Teile der AL sagen, das Raumschiff Bonn soll entzaubert werden, um die Regierung mit der rauhen Wirklichkeit zu konfrontieren, dann ist das Quatsch: Die Zweidrittelgesellschaft ist in den Köpfen längst etabliert. Wenn hier irgendein Kanzler irgendeinem Penner in die Augen guckt, wird deshalb nicht die Sozialhilfe erhöht, sondern lediglich gefragt, wie der es geschafft hat, die Bannmeile zu durchbrechen.

Du bist gegen Berlin als Regierungssitz, aber mit der repräsentativen Funktion als Hauptstadt einverstanden. Welche Repräsentationsfunktionen sollten denn hier etabliert werden?

Na, dann wird hier der Bundespräsident rumsitzen, möglicherweise noch ein oder zwei Ministerien, ein paar kleinere Einheiten — das kann es dann aber auch sein. Diese Stadt wird eine Wirtschaftsmetropole, und das ist auch die einzige Chance. Das muß stadtpolitisch und sozialverträglich in die Planung eingearbeitet werden.

Berlin ist die erste westliche Metropole, auf die die Flüchtlinge und Zuwanderer aus Osteuropa stoßen. Wie kann die Stadt mit dieser Zuwanderung fertig werden?

Das ist schwer, weil es hier keine vernünftige Infrastruktur gibt, die mit der Zuwanderung der letzten Jahre fertig wird. Aus- und Übersiedler hocken noch in den Heimen, und die Wohnungsvergabepolitik ist derart restriktiv, daß zunehmend einkommensarme, aber auch verdienende Leute vom bezahlbaren Wohnungsmarkt ausgeschlossen werden. Es fehlen mindestens 250.000 Wohnungen in ganz Berlin, und es werden noch mehr Leute kommen — vor allem, weil sie sich hier einen Arbeitsplatz erhoffen. Die Stadt ist für den kommenden Durchreisestrom überhaupt nicht gerüstet. Deswegen muß zumindest intern eine Lebens- und Wohnkultur entwickelt werden, damit man irgendwann auch für die kommenden Menschen etwas anbieten kann. Solange Berlin weiter argumentieren kann, daß die eigene Stadtproblematik noch nicht bewältigt ist, werden alle Flüchtlinge sowie Zuwanderer aus Osteuropa und anderswo wieder rausgekantet. Interview: Martina

Habersetzer/Andrea Böhm