Jenseits der Liebfrauenmilch

Degustationsnotizen vom 1.Internationalen Weinfestival in Wiesbaden  ■ Von Martin Halter

Jawohldoch, „der Wein erfreuet des Menschen Herz“: Darin kommen Ignaz Kiechle, das Alte Testament und Goethe überein. Der Dichterfürst etwa attestierte dem Rebensaft „produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art“, und seiner Christine gab er den hausväterlichen Rat: „Nach dem Gelde ist wohl der Wein am ehesten wert, daß man sein gedenkt.“ Allzeit produktivmachend, vergor er schon als Stürmer und Dränger die in ihm brausenden Säfte zu volkstümlicher Poesie: „Ohne Wein kan's uns auf Erden/ Nimmer wie dreyhundert werden/ Ohne Wein und ohne Weiber/ Hol der Teufel unsre Leiber.“ Auch späterhin, „still schöppelnd meinen Eilfer“ (der 1811er war ein „Jahrhundertwein“), hat Goethe den Schatz unserer Trinksprüche um einige der blutvollsten bereichert: „Ein ächter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden/ Doch ihr Weine trinkt er gern.“ Im hohen Alter noch genehmigte er sich — „im Rahmen lebenskünstlerischen Genießens“, wie die Kulturgeschichte weiß — täglich zwei Bouteillen Rheinwein; allein, sein getreuer Eckermann beeilt sich zu versichern: „Betrunken oder stark angeheitert hat jedoch den lieben Geheimrat niemand gesehen.“ Soviel zum Kapitel Goethe und der Wein.

Auch an mir ist der „Taumelkelch“ der Bibel nicht ungetrunken vorübergegangen; wiewohl ich erst spät Chianti-Bastflaschen und Müller-Thurgau mit jenen subtileren Freuden zu vertauschen gelernt habe, die des Franzmanns Weine bereithalten. Ich kenne das behagliche Wohlgefallen, das ein Gläschen Burgunder am Feierabend spendet; ich habe die edle Heiterkeit des Schwipses erfahren und auch, ich gesteh's, seinen großen Bruder, den erhabenen dionysischen Rausch.

Was mir aber bisher weitgehend verschlossen blieb, auch das beichte ich lieber gleich, sind die Geheimnisse des Weinkenners, die Kellertechnik und die Fremdsprache der Degustationsnotizen — überhaupt jene unterscheidende Vernunft, mit der professionelle Weinverkoster das sinnlich-profane Picheln wortmächtig vergeistigen. Wo anders, dachte ich mir, ließe sich das Buch mit den sieben Weinsiegeln leichter entziffern als auf dem „1.Internationalen Weinfestival“, das — unter der Schirmherrschaft Helmut Kohls und der tätigen Mitwirkung von Ignaz Kiechle, der deutschen Weinkönigin und den bedeutendsten Vorkostern der Welt — kürzlich im Kurhaus zu Wiesbaden über die Bühne ging? Wo anders kann man schließlich gut und gerne dreitausend Weine und Sekte aus aller Welt — Forster Ungeheuer aus dem Rheingau und, Gott bewahre, Weißburgunder aus Sachsen, Mukuyu-Rotwein („Flame Lily“) aus Zimbabwe und 1978er ChÛteau Latour — trinken, pardon: verkosten? Und wer könnte einen gründlicher in die Mysterien der Aprikosen- Nase und des eleganten Abgangs einweihen als der versammelte Fachverstand des deutschen Weinbaus?

Der Wein, dies vorweg, entfaltet seinen ganzen Reichtum nur dem Connaisseur, der nicht bloß seiner Kraft standhält, sondern sich auch und mehr noch seinem Geist gewachsen zeigt. Die Spartanerinnen badeten ihre Neugeborenen in Wein, aber ihre natürliche Auslese war barbarischer als jede nachgezuckerte Spätlese. „Wer trinkt nicht gern“, sagt der alte Eulenböck in Tiecks Novelle Die Gemälde. „Es gibt nur wenige Unglückselige, die das mit Wahrheit von sich versichern können. Aber es ist ein Erbarmen anzusehen, wie sie trinken, ohne Applikation, ohne Stil.“ Die Stoßseufzer des Weinenthusiasten in Ehren; auch will ich es ja, weit entfernt von naseweisem Schnüffeln und vorlautem Süffeln, durchaus nicht an stiller Demut und geduldiger Übung fehlen lassen: Aber vermag sich ein Adept überhaupt je zu wahrer Meisterschaft emporzuschwingen? „Jüngling“, Eulenböcks Antwort ist wenig ermutigend, „diese Frage ist zu verwickelt, setzt unendliche Erfahrung, historischen Überblick, abgelegtes Vorurteil und einen nach allen Richtungen ausgebildeten Geschmack voraus, den nur viele Jahre, fortgesetzte Arbeit und unermüdliches Studium sowie die Mittel dazu, die nicht in jedermanns Händen sind, fassen und lösen können.“ Nicht umsonst hat auch Goethe die Geldmittel noch vor den Wein gesetzt. Die „Große Internationale Rotweinprobe“ in Wiesbaden kostet zwar nur läppische 150 Mark, aber dafür bekäme man noch nicht einmal eine einzige Flasche Pétrus.

Werfen wir nun aber einen Blick in Johann U.Schäfers Degustationsseminar für Weineleven. Der Wein, so erfahren wir, erschließt seine Reichtümer in der klassischen Sinnesreihenfolge color-odor-sapor (Farbe-Geruch-Geschmack). Für die visuelle Wahrnehmung ist „kein besonderes Talent“ erforderlich. Was unser schülerhaftes Riechorgan betrifft, machen Schäfer und sein unerbittlicher Famulus Franzgerd Mießmer uns schon weniger Hoffnung. „Der Geruchssinn ist der am stärksten degenerierte Sinn, der uns zur Verfügung steht.“ Durch komplizierte Schnüffel-, Schlürf- und Schluckbewegungen drängt der Kenner den ganzen olfaktorischen Rattenschwanz „Duft-Geruch-Blume-Bukett-Aroma“ immer weiter in die Riechschleimhäute hinauf, wo der Verstand dann seine nervigen Fühler ausstreckt. Mein Sinnesapparat, durch die Zivilisation blind und taub geworden, tut sich schwer damit, die Duftnoten der Vorkoster zu erschnüffeln; auch mein Tastsinn — Tannin gerbt nämlich die Zunge — bleibt eher stumm. Und mein Geschmackssinn ist offenbar durch die Rotweinprobe vom Vorabend sensorisch depraviert.

Guter Geschmack ist, anthropologisch betrachtet, durchaus primitiv, zweifellos unser „simpelster Sinn“; man muß ihn deshalb auch, rät Schäfer, „wie das Personal in der letzten Reihe“ behandeln: Systematisch erziehen und strategisch organisieren. Vorne an der Spitze empfindet die Zunge die Süße, an den Rändern wird es leicht sauer, hinten im Rachen, wo der Wein seinen „Abgang“ zelebriert, lauern die Papillen der Bitterkeit. Vor den Weineleven stehen nun zehn Gläser Geißenheimer Leitungswassers, deren Zucker- und Säuregehalt es in den „Sensorit Übung I (Feststellung der persönlichen Schwellenwerte)“ zu erschmecken gilt. Die Besten oder auch dreistesten Schummler bekommen hinterher ein Weinthermometer überreicht, den anderen bleibt der „Aha-Effekt“. Herr Schäfer findet Worte des Trostes. Der „Organoleptiker“ — es ist dies der „vermeintliche Kenner“, der Sinneswahrnehmungen apodiktisch mit seinen subjektiven Meinungen verknüpft — kann sich beim geselligen Meinungsaustausch mit „sensorisch besonders begabten und gewissenhaften“ Trinkern zum „Ideal-Sensoriker“, dessen Urteile objektiven Analysen gleichkommen, fortbilden. Deshalb bedarf eine gelungene Weinprobe auch der geselligen Runde.

Über die Geschmacksnuancen der verkosteten Lehrweine aus „Mießmers Hexenküche“ — überreifer Boskop, Kohl oder vielleicht doch nur Kork? — läßt sich mit Gewinn kaum streiten. Dafür lernen wir die handfestere Doppelsalzausfällung kennen und die Tücken der malolactischen Gärung; roh wird so der Schmelz des Wunderbaren vom Götternektar abgestreift. Hat Lichtenberg das Weintrinken nicht das Freudenfest aller Seelenkräfte genannt, „bei dem die strengste Vernunft Feierabend macht“? Ehe der Geist des Weines vollends verduftet, vertausche ich die graue Theorie des Degustationsseminars mit der Praxis der Weinverkostung.

Zunächst einmal ist dem Mißverständnis zu begegnen, es säßen hier Organoleptiker in fröhlicher Runde beisammen. Die Experten, die sich an langen, weißgedeckten Tischen zur „fachlich moderierten Vergleichsprobe“ von zwei Dutzend Weinen versammeln, sind keine rotnasigen Zechbrüder; im Saal wie vorne auf dem Podium, wo die Vorkoster erklärende Trinksprüche von homerischer Bildkraft ausbringen, dominieren Nadelstreif und Adelstitel. Durch die Tischreihen schwärmen auf einen Wink des Maître de plaisir hin die Damen der „Servicebrigade“ mit den Flaschen. Vollkornbrot und Mineralwasser reinigen die Geschmacksnerven der Testtrinker für neue Sensationen: Eine Verkostung ist keine Verköstigung und viel eher ein griechisches Symposion als ein römisches Gelage. Ein Schlückchen genügt, und selbst das spuckt der Kenner, nachdem er es durch die Achterbahn seiner Schleimhäute und Papillen gerollt hat, ungerührt in den silbernen Kübel, der als Menetekel unübersehbar neben der Gläserbatterie thront. Selbst die „große Internationale Rotweinprobe“ im Hotel Nassauer Hof — 70 halbgefüllte Gläser auf jedem Tisch lassen kaum noch Raum für das „Feine vom Frischling“ und andere Häppchen aus der Küche des Restaurateurs Hans-Peter Wodarz — wird so zum nüchternen Geschäft.

Gleichwohl steigt die Stimmung mit jedem neuen Wein, zumal, wie bei der Hochzeit von Kanaan, die besten zuletzt kredenzt werden. Ein Summen und Brausen erhebt sich im Saal (oder ist es nur mein Kopf?), und spätestens als der Puligny-Montrachet aufgetischt wird, werden die analytischen Beigaben des Moderators immer unschärfer: „Nummer 15 steht da wie ein Grandseigneur... Herrgottnochmal, das ist Wein. Da können sich die Amerikaner noch so anstrengen, den kopiert keiner.“ Die weinhistorischen Exkurse von Professor Schenk über die hundertfältigen Mutationen der Burgunderrebe werden mehr und mehr verschluckt. Und um ehrlich zu sein: Was kümmert's mich, daß die Chardonnayrebe sich „ampelographisch durch eine randständige Ader in der Stielbucht auszeichnet“?

Nicht daß nun bacchantischer Frohsinn aufkäme: Wein, Weib und deutscher Gesang. Hier saufen schließlich keine Falstaffs, keine lüsternen Nymphen und trunkenen Silene, hier degustieren distinguierte Weltleute in drei Sprachen. Und das ist, so wenigstens empfindet es Schaumweinpräsentator Freiherr Schilling von Canstatt, eine „sehr harte Arbeit“, die Disziplin, stille Konzentration und Selbstbeherrschung erheischt. Aber für ein paar geschliffene Bonmots, für launige Dichterworte („Des Säuglings erster Klageton/ schallt um des Durstes willen“) und entspannte Scherze ist es nun doch an der Zeit. Keine Herrenwitze, Gott bewahre. „Es lohnt sich, die Zunge auszubilden“, hat der Freiherr gesagt. „Sie ist der einzige Körperteil, der mit zunehmendem Alter an Fähigkeiten gewinnt.“ Den Übergang von den deutschen Schwaumweinen zu den Champagnern versüßt er uns mit plastischen Metaphern. Die „Dosage“ — die Zuckerung des Champagners — „ist wie die Corsage: sie lebt.“ Es gebe Liebhaber barocker Formen, die sich lieber an einer drallen Dirne beim Dorffest ergötzen als an der ätherischen Ballerina. Die Sekte, die, Lärm und Staub aufwirbelnd, mit ihren „zu großen Füßen“ herumtrampeln, haben die Bühne verlassen; auftreten jetzt die rassigen und „schlanken Grazien“ aus der Champagne. Konrad Burdach hat in seiner physiologischen Studie Geruch und Geschmack kürzlich nicht umsonst bemerkt, daß die Riech- und Schmeckinformationen sich weniger an Kopf oder Herz richten, „sondern vornehmlich an den fleischlichen Menschen“. Inzwischen zerschellen die ersten Gläser im Saale, eine neuerliche „Explosion der Schönheit“ verpufft im Gebrumm allgemeinen Erfahrungsaustauschs. Zu undiszipliniert, um alles, was da kitzelnd die Corsage sprengt, dem Spucknapf zu überantworten, bin auch ich endlich bereit, die vom Freiherrn erhobene „Fackel der Begeisterung“ in alle Welt hinauszutragen. Draußen im Kurpark haben jedoch mittlerweile dralle Landfrauen, Äppelwoiwinzer und Kaninchenzüchter ihre Zelte zu Erntedankfest und Leistungsschau aufgeschlagen; neben der Trampelbühne der Volkstanzgruppe steht, ein böses Omen, der Rettungswagen des DRK Bierstadt. „Wer ständig genießen darf oder muß“, hat Ignaz Kiechle beim offiziellen Empfang philosophiert, „hat es eines Tages schwer, im Leben noch Erfüllung zu finden“. Und doch wünscht er dem vereinten Deutschland „ein bißchen mehr Liebe zum Wein bei noch mehr Menschen auf der Welt“.

Genuß ist also Arbeit und Geschäft. Wer ohne Verstand trinkt, blamiert sich leicht: Im Weine ist eine Wahrheit. Wehe, wenn bei einer der beliebten und berüchtigten „Blindverkostungen“ wieder einmal ein Lumpenproletarier aus Algerien oder Kalifornien über einen 1er Cru Classé des Medoc triumphiert: Die Schloßherren schäumen, die Laien wundern sich. Die internationalen Weinjournalisten, die in Wiesbaden auftreten, sind freilich Meister ihres Faches: Weinerzieher, Sommeliers. Der „Wine Man of the Year“ ist da, Güterdirektor Engel, Vorsitzender des „Riesling-Freundeskreises Trier“, und Mrs. Robinson, diplomierte „Master of Wine“ und Weinkorrespondentin der 'Financial Times‘; Stuart Piggot, Autor von There is Life beyond Liebfrauenmilch und Amerikaner, die mit ihren täglichen Radiosendungen und Talkshows über Wein prahlen. Rotwein ist für sie nicht etwa rot, sondern changiert in einem „mitteltiefen Ziegelrot“ mit ockerfarbenen Reflexen ins Violette hinüber. Man weiß von Weinpäpsten, die aus edlen Tropfen zerkrümelten Zimtbiskuit herausschmecken; und in Wiesbaden machten sich Kenner ohne Erröten anheischig, den Boden, auf dem die Eichenfässer wachsen, aus dem Holzton des darin gelagerten Weins zu bestimmen.

So kann es mich auch kaum überraschen, daß ein Laufener Altenberg Spätburgunder schon im Auftakt nach „süßen Rosen, Marzipan und Efeublättern“ riecht, daß der Fleurie Bananen in der Nase hat oder daß ein Grantschener Lemberger in seiner „Geruchsattacke“ seine „mehr flächtige als räumliche Struktur“ bezeuge. Daß Andrew Sharp, ein gewichter Contest Director mit genußfähigem Doppelkinn und Goldbrille, die Riojas diverser Marqueses „very special“ oder „not bone dry“ findet, kann ich sogar ohne weiteres nachvollziehen. Der Franzose Pierre Crisol will in dem allerings unvergleichlichen 82er ChÛteau Musar aus dem Libanon außer Oliven, Tomaten, Pfeffer, Seide und gekochten Früchten auch, wie billig, den Geschmack der Libanon-Zeder identifziert haben; der 85er Hermitage La Chapelle sei dagegen, was immer er damit meint, „toasty-roasty“, und der 85er Cabernet-Sauvignon aus dem Napa Valley ist, dochdoch, „extremely drinkable now“. Ja, auch in mir reift nun die geschmäcklerische Vorstellungskraft zur Poesie. Ist dieser 86er Cresco Rosso nicht — typisch italienisch — von einer falschen Tiefe, irgendwie ölig morbid wie ein falscher Caravaggio? Nein? Dann eben nicht.

Es gibt nämlich lahme Enten und tote Hunde unter den Weinen. Weil das, sagen wir es offen, in deutschen Landen häufiger als anderswo vorkommt, setzt die deutsche Weinbauindustrie derzeit alles daran, die Qualität und, mit aufwendigen Marketingkampagnen, das Prestige ihrer Qualitäts— und Prädikatsauslesen zu „profilieren“. Marktforscher prognostizieren einen „Verlust der Mitte“, unter dem der deutsche Wein, ein Opfer seiner Unübersichtlichkeit, besonders zu leiden habe. Zu den „Imagefeldern“ rechnet das deutsche Weininstitut daher neben den „Defiziten im Hochpreissegment“ auch das „Opa-Image“, das deutschen Gewächsen anhaftet: veränderte Flaschenformen und flottere Etiketten bei den „Designerweinen“ sollen da Abhilfe schaffen, neue Sorten wie Chardonnay und Kellerexperimente mit „Leichtwein“ oder den groß in Mode gekommenen Barriquefässern.

Das Für und Wider dieser „Philosophien“ beschäftigte auf dem Wiesbadener Weinfestival mehrere Podiumsdiskussionen, will sagen: Glaubenskriege. Gibt das 225-Liter-Eichenfaß dem Wein „Rückgrat“ und „Persönlichkeit“ oder werden nicht doch eher schache Weine mit einem „interessanten“ Holzton erst aufgepäppelt? „No wood — no good“ sagt der Amerikaner, der „fette“ Weine liebt; aber soll man deshalb den deutschen Weißburgunder der grassierenden „Barriquomanie“ opfern? Und ist nicht der deutsche Wein, zu Hause hemmungslos prämiert, auf dem besten Wege, „der billige Jakob Europas“ (Mario Scheuermann) zu werden, weil es an einer Klassifizierung nach französischem A.C.- und Grand-Cru-Muster gebricht?

Die Kontrahenten kämpfen mit harten Bandagen; Schlagworte wie „Blödsinn“, „Etikettenschwindel“ und „Betrug am Verbraucher“ machen die Runde. „Packen Sie doch ein mit Ihrem Marketing“, zieht der streitbare Weinjournalist Scheuermann gegen die Imageverbesserer vom Weinbauverband vom Leder. „Sie sind doch ein Teil dieser Mafia, die höhere Preise verhindert.“ Hat nicht Minister Kiechle dem Wein das Vermögen zugeschrieben, „ein herzliches und entspanntes zwischenmenschliches Verhältnis“ zu schaffen? Graf von Salm-Salm wirft sich mäßigend in die Bresche; Graf Matuschka-Greiffenclau, der soeben den Rheingau aus dem deutschen Weinbauverband führte, weist auf den Grenznutzen aller Luxusgüter hin. „Objektive Qualitätsmerkmale helfen nicht weiter. Wer fragt bei einem ChÛteau Lafite nach Oechsle? Einen Nerzmantel kauft man sich doch auch nicht, weil er warm ist, sondern weil er mit dem Prestige von Reichtum und Eleganz verknüpft ist.“

Der Weg nach oben ist lang und dornenreich. Man muß, sagt Herr Rauner, „erst eine bessere Mentalität im Weinbau züchten“, und das ist angesichts des Futterneids der Winzer und der Schwerfälligkeit „rechtsmittelfähiger Verwaltungsakte“ ein schier aussichtsloses Unterfangen. Aber ist die Mentalität der Konsumenten etwa besser? Herr Karl-J.E. Liebetreu, Importeur kalifornischer Weine, macht mich darauf aufmerksam, welch unerschlossenes Potential für seinen Chardonnay etwa in der Arbeiterklasse brachliege. Amerika hat es da auch nicht besser; der Markt ist nun einmal durch die zahlungsfähige Nachfrage begrenzt. „Die Neger und Mexikaner trinken doch keinen Wein“, sagt Liebetreu mit einem Unterton von leisem Zorn.

Masse und Qualität zugleich zu vermarkten — das ist die Quadratur des Kreises. Wenn die Wermutbrüder alle Tage Meursault schlürften, wäre die Liebfrauenmilch der Nerzmantel der Nackten. Oder so ähnlich. Aber jenseits von Kröver Nacktarsch und Michelsberger Pißpott rangiert immer noch ein 1811er ChÛteau d'Yquem, den Hardy Rodenstock, der wohl berühmteste Weinsammler der Welt, schon einmal zu verkosten die Ehre (und das Geld) hatte. „Es ist wie das Warten auf den Yeti“, beschreibt er in der Talkshow „Alter Wein — Genuß, Geldanlage oder Sammler-Spleen?“ die zitternde Erregung, die ihn überfällt, wenn sein Sommelier sich am morschen Korken und brüchigen Glas zu schaffen macht. „Ist es noch großer Wein oder absoluter Schrott?“

Richtig ausgeübt, setzt das Hobby natürlich eine gewisse Flüssigkeit voraus. So sich der „kleine Mann“ (Diskussionsleiter und Portwein-Experte August F. Winkler) aufs Weinsammeln verlegt, sollte er seine alten Bordeaux-Flaschen (wenn er die angelegten Sümmchen — der Rekord steht bislang auf 400.000 Mark für einen 1787er ChÛteau Latour — schon nicht versaufen will wie Hardy) „natürlich regelmäßig“ zum Umkorken ins Herkunfts-ChÛteau fliegen; nur alle 20, 30 Jahre zwar, aber dabei kann schon mal eine Flasche zu Bruch gehen.

Und dann gibt es außer Essig und überschätzten Weinen wie dem 61er ChÛteau Palmer ja auch noch Etikettenschwindler und die Konjunkturen des Marktes: Wer erinnert sich nicht mit verhaltenem Schrecken an die 74er Baisse? Jetzt steht der Index für alte Bordeaux-Weine (1978: 100) wieder auf erfreulichen 614,53. Hans-Peter Wodarz, der die „Ente von Lehel“ hütet, wird von der Ahnung bedrückt, daß „die großen Kenner in Zukunft ihre Raritäten lieber zu Hause als im Restaurant trinken.“ Immerhin werden die Seelenqualen des Restaurateurs dann ein Ende nehmen, wenn kein neureicher Banause mehr „den teuersten Wein, den Sie haben“ verlangt. Die Mysterien alter Weine wird wohl nur der ganz würdigen können, der sich, wie der arme Kashoggi, von Freund Hardy einen 59er Pétrus in die Zelle des Untersuchungsgefängnisses schicken läßt. Wie die Degustation, so ist nämlich auch die Liquidation alter Weine nicht unbedingt ein Genuß, „aber immer ein Erlebnis“.

Zwar gilt noch immer Winklers männliches Schlußwort: „So wie die Nacktheit einer Frau weiser ist als alle Philosophie, sagt ein Schluck Wein mehr als tausend Worte.“ Aber der Wortschatz der Weinbeschreibung ist gleichwohl seit dem 18.Jahrhundert von etwa 40 auf über 1.000 Begriffe gewachsen, und weder ist ein Ende dieser scholastischen Geschmacksverfeinerung abzusehen noch ein stillschweigendes Genießen. „Tale vinum, tale latinum“, pflegten die Scholaren zu singen. „Wie der Wein, so's Latein.“ Und Arnald von Villanova gestand den Theologen, die über die höchsten und schwierigsten Dinge nachzudenken hätten, mehr Wein als anderen zu, weil jener „den Denkspiritus verfeinert und die Gedanken schneller ablaufen läßt“. Wird also das Bukett immer reicher, der menschliche Sinnesapparat differenzierter oder doch nur die sprachmächtige Zunge immer beweglicher?