Die Ausbildung der Juristenpersönlichkeit

Das wirkliche Leben findet trotz Reformen nach wie vor keinen Eingang in die Ausbildung von JuristInnen/ Deutscher Juristentag fordert drastische Verkürzung des Jura-Studiums durch Zwangsmaßnahmen/ Deutsche Einheit bietet westdeutschen JurastudentInnen neue Perspektiven in der Ex-DDR  ■ Von Christian Rath

Die Debatten um die JuristInnenausbildung sind schon immer etwas abseits der allgemeinen Hochschulpolitik geführt worden. Nicht nur, weil der JuristInnenstand ein recht dünkelhafter ist, sondern wohl auch wegen der staatspolitischen Bedeutung von Justiz und Rechtswissenschaft. Zutreffend wird die Geschichte der juristischen Ausbildung dabei als ebenso erfolglose wie unendliche Kette von Reformbemühungen charakterisiert.

Die Grundstrukturen dieser Ausbildung gehen bis ins 18.Jahrhundert zurück und sind bis heute im wesentlichen unverändert geblieben: Einem der Theorie gewidmeten Hochschulstudium folgt ein bei Gerichten, AnwältInnen und anderen „Stationen“ zu absolvierendes Referendariat. Beide Ausbildungsabschnitte sind mit je einem Staatsexamen abzuschließen. Die Kritik an dieser künstlichen Trennung von Theorie und Praxis ist so alt wie die Struktur selbst.

Nach wie vor bestimmt das Erlernen von Subsumtionstechniken anhand lebensfremder Sachverhalte den Alltag von JurastudentInnen weit mehr als zum Beispiel rechts- und gesellschaftspolitisch relevante Problemstellungen. Vorlesungen, Sinnbild für autoritätsfixierte Lehrformen, in denen Wissen im Frontalunterricht eingepaukt wird, lassen einen wissenschaftlichen Diskurs nicht zu. Das Leben der Studierenden spielt sich ab zwischen Bibliothek und Hörsaal.

Kontakt und Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, den Sichtweisen und Interessen der „Rechtsunterworfenen“ bietet das Studium so gut wie gar nicht. Selbst die Praxisphase, das Referendariat, ist von der Büffelei auf die zweite theoretische Mammutprüfung überlagert. Überspannte Prüfungsanforderungen durch Stoffüberfrachtung erzeugen bei beiden Staatsprüfungen einen erheblichen Disziplinierungsdruck, der sich durch die traditionell schlechte Notengebung und hohe Durchfallquoten verstärkt; entsprechende Juristenpersönlichkeiten werden dabei erzeugt.

Die lange Ausbildungszeit beruht wesentlich auf der Entkoppelung von universitärer Lehre und staatlicher Prüfung. So ziehen es ca. 90 Prozent aller Jura-Studierenden vor, sich nach Ablegung aller universitären Scheine auf die Staatsprüfung bei einem privatwirtschaftlichen Repetitor (Einpauker) vorzubereiten. Damit wird deutlich, daß das derzeitige Studium nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, Studierende an der Hochschule examensgerecht auszubilden. Es ist schlichtweg dysfunktional. Die Trainee- Programme der Großkonzerne wirken in ihrer Anlage dagegen geradezu fortschrittlich.

Eine nur halbherzige Reform

Ungeachtet der hier harrenden Großaufgaben nahm der deutsche Juristentag (ein rechtspolitisch orientierter und sehr einflußreicher Verein mit mehreren tausend Mitgliedern) auf seiner diesjährigen Tagung nur einen Teilaspekt der Ausbildungsproblematik aufs Korn: Die Diskussionen sollten sich auf Maßnahmen beschränken, das Studium zu verkürzen und europagerechter zu gestalten. Daß hinter der Pragmatik der Vorgaben auch eine politische Weichenstellung steht, wird deutlich, wenn man die Entwicklung der Reformbemühungen in den vergangenen rund zwanzig Jahren betrachtet.

So machte sich die Forderung nach Demokratisierung der Justiz am Ende der 60er Jahre wesentlich an der Ausbildung der juristischen FunktionsträgerInnen fest. Ansatzpunkte für die Schaffung von „kritischen, aufgeklärt handelnden Juristen, die ihre Funktion und die des Rechts reflektieren“, waren dabei vor allem folgende:

— Einbeziehung von Sozialwissenschaften in das Studium,

— Integration von Theorie und Praxis durch Aufhebung der Trennung in Studium und Referendariat,

— Verbesserung der Didaktik sowie (auch damals schon) die Verkürzung der Ausbildungszeit.

Die damalige Stimmung spiegelte der Deutsche Juristentag 1970 in Mainz wider. Geprägt vom zahlenmäßig starken Auftreten „progressiv gestimmter Referendarsgruppen“ sprach er sich für die Einführung von sogenannten „Einphasenmodellen“ auf der Grundlage einer gesetzlichen Experimentierklausel aus.

Zwar verankerte der Bundestag tatsächlich eine entsprechende, zeitlich befristete Klausel im Richtergesetz, doch war damit nicht nur den Ländern freie Hand zur Erprobung neuer Modelle gegeben, diese eher halbherzige Herangehensweise machte vielmehr die Nicht-Reform zur Regel. Nur an acht von über dreißig juristischen Fakultäten durften seither neue Wege beschritten werden. Davon spielten in den sogenannten „Südmodellen“ Trier, Augsburg, Konstanz und Bayreuth vor allem Effiktivitätsgesichtspunkte eine Rolle. Nur in Bremen, Hamburg, Hannover und — mit Abstrichen — in Bielefeld konnte die ursprüngliche Intention ansatzweise umgesetzt werden.

Kennzeichnend für die Nordmodelle waren unter anderem Ausbildungselemente wie sozialwissenschaftliche Eingangssemester, Zurückdrängung von Vorlesungen zugunsten von Kleingruppenarbeit, projektorientierte Schwerpunktphasen, theoretische Begleitung von Praxisphasen, interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen sowie Entzerrung der Prüfungen und Reduzierung der Examensnoten auf „bestanden“ und „nicht bestanden“.

Natürlich gerieten die Nordmodelle unter heftigen Beschuß durch Konservative, was sogar dazu führte, daß für AbsolventInnen der besonders konsequent-reformerischen Bremer JuristInnenausbildung der Staatsdienst in den süddeutschen Bundesländern verschlossen blieb. Nach dem Ende der ursprünglich auf zehn Jahre befristeten, dann noch einmal um drei Jahre verlängerten Experimentierphase wurde 1984 allen Reformfachbereichen, auch den süddeutschen, die Rückkehr zur alten Zweigliedrigkeit verordnet.

Denn in Bonn hatte gerade die Regierung gewechselt, und die neue CDU/FDP-Koalition wollte von der ganzen Diskussion um die juristische Ausbildung nichts mehr wissen. Kaum etwas von den Reformansätzen ist in das novellierte Richtergesetz eingeflossen.

Verkürzung durch Verschulung

Die Einführung einer dreimonatigen Praxisphase ist nur ein müder Abklatsch der Theorie-Praxis-Integration aus der Reformzeit, und die Verankerung von studienbegleitenden Leistungskontrollen, also einer Zwischenprüfung, hat das Studierverhalten der Anfangssemester merklich schematischer gemacht.

Eine inhaltliche Auswertung der unterschiedlichen Reformerfahrungen fand kaum statt, obwohl sie auch aus linker Sicht durchaus notwendig gewesen wäre. So konnte die starke Verkürzung der Studienzeiten (ca. sechs Jahre statt derzeit durchschnittlich neun bis zehn Jahren) nur durch eine weitgehende Verschulung des Studienablaufs erreicht werden.

Wer jedoch gedacht hatte, mit diesem Roll-Back sei auf absehbare Zeit das Bestehende festgeschrieben, sah sich getäuscht. Schon 1986 begann unter Rechtsprofessoren eine Diskussion über das „Elend der juristischen Ausbildung“, die sich vor allem an der langen Ausbildungsdauer der bundesdeutschen JuristInnen festmachte. Sie seien nach durchschnittlich zwölf Semestern Studium, zweieinhalb Jahren Referendariat und dazwischen noch bis zu einem Jahr unproduktiver Wartezeiten schlichtweg zu alt, um mit dem juristischen Nachwuchs anderer EG- Länder konkurrieren zu können.

Zwar ist von internationaler Konkurrenz auf dem europäischen Binnenmarkt in erster Linie nur eine kleine Gruppe von AnwältInnen, nämlich die der wirtschaftsberatenden Kanzleien betroffen. Dennoch genügte das Stichwort Europa, das Thema Juristenausbildung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Der hessische Justizminister Koch sowie der ständisch-orientierte Deutsche Anwaltsverein gingen noch einen Schritt weiter und forderten für den zweiten Ausbildungsabschnitt eine Spezialisierung im Hinblick auf unterschiedliche Berufsziele (zum Beispiel für RichterInnen und AnwältInnen). Damit stellten sie das traditionelle Prinzip des/der EinheitsjuristIn in Frage, nach dem jedeR JuristIn (trotz Schwerpunktsetzung) Zugang zu allen juristischen Berufen hat.

Versuche, das Thema nun auch wieder von Links zu besetzen, waren in der Folgezeit allerdings wenig erfolgreich. Der Kongreß „Reform statt Modernisierung“, der im Mai in Bielefeld auf Initiative der Zeitschrift 'Forum Recht‘ und des Bundesarbeitskreises kritischerJuragruppen (BAKJ) stattfand, formulierte vor allem eine deutliche Kritik des Bestehenden. Dem stand, wie auch in den Positionspapieren der verschiedenen fortschrittlichen JuristInnenverbände, als Gegenkonzept nur eine derzeit wenig ausstrahlungskräftige Neuzusammenstellung alter Reformprinzipien gegenüber.

So brauchten die OrganisatorInnen des Deutschen Juristentages nicht um ihre Konzeption zu fürchten; die juristische Linke war in München nicht in der Lage, der geplanten Diskussion um die Studienzeitverkürzung einen grundsätzlicheren Reformansatz gegenüberzustellen. DiskussionsrednerInnen, die noch über den „kritischen Umgang mit Recht als Studienziel“ sprachen, wirkten fast wie SektiererInnen.

Deregulierung als pragmatischer Ansatz

Die eher sozialdemokratisch orientierten Frankfurter Professoren Winfried Hassemer und Friedrich Kübler ließen sich auf eine Wiederholung alter Debatten denn auch nicht ein und stritten vor allem für eine Deregulierung der Ausbildung. Statt allumfassende Pflichtkataloge staatlich vorzuschreiben, solle auf das viel effizientere Prinzip des „exemplarischen Lernens“ umorientiert werden. Außerdem solle die Prüfung nicht mehr in staatlicher, sondern in universitärer Verantwortung liegen.

Während sie sich mit der Forderung nach Stoffreduzierung noch durchsetzen konnten, erlitten sie in der Frage der Universitätsprüfung eine knappe Niederlage. Um einen vermeintlich zwangsläufigen Niveauabfall zu verhindern, soll die Prüfungsverantwortung weiterhin bei staatlichen Ämtern verbleiben (zur Äußerung von politischen Bedenken gegen die Universitäten gibt es offensichtlich keinen Anlaß mehr).

Was aber vom oberflächlichen Bekenntnis des Juristentages zur Deregulierung zu halten ist, zeigt die weitere Beschlußlage. Das bisher relativ freie Studium soll durch verbindliche Studienpläne stark verschult werden. Konkret sieht das DJT-Modell vor: Nach einem sechssemestrigen „Grundstudium“ erfolgt eine neue Staatsprüfung, nach zwei weiteren Semestern „Vertiefungsstudium“ ist das (nach früherer Zählweise) erste Staatsexamen zu absolvieren, nach einem nur noch zweijährigen Referendariat das zweite Staatsexamen (das weiter zu allen juristischen Berufen befähigen soll).

Da sich die Justizminister Krumsiek (Nordrhein-Westfalen), Caesar (Rheinland-Pfalz) sowie die Justizstaatssekretäre Rosenbauer (Bayern) und Bouttier (Hessen) mit jeweils eigenen Modellen an der Debatte beteiligten, herrschte in München doch einige Skepsis, ob sich die Gesetzgeber in Bund und Ländern zu den vom DJT geforderten einschneidenden Umstrukturierungen bereit finden werden. Groß ist aus Sicht der Studierenden zumindest die Gefahr, daß lediglich die Einführung der „dritten“ Staatsprüfung und der gesetzlichen Studienzeitsbeschränkung gelingt, nicht aber eine relevante Reduzierung des Lern- bzw. Prüfungsstoffes.

Für den BAKJ kommentiert dessen Sprecher Sven Knutzen trocken: „Besser gar keine Reform als diese.“ Nächster „Reform“-Schritt ist eine zweitägige Anhörung der Justizminister-Konferenz Anfang November in Hannover. Konkrete Maßnahmen zur Studienzeitverkürzung hat bereits das Land Bayern eingeführt. Eine sogenannte „Freischuß“-Regelung sieht dabei folgendes vor: Wer nach dem achten Semester zum Examen antritt, muß sich einen etwaig mißlungenen Versuch nicht anrechnen lassen. Diese Regelung habe, so Staatssekretär Heinz Rosenbauer, dazu geführt, daß sich in diesem Jahr bereits ein Drittel aller Acht-Semester zum Examen meldeten.

Die Diskussion über das „Zuckerbrot“ Freischuß verstellte allerdings den Blick für eine zweite bayerische Regelung, die den Part der „Peitsche“ übernimmt: Nach dem 12.Semester (der derzeit durchschnittlichen Studienzeit also) werden die Studierenden automatisch von der Universität zur Prüfung angemeldet. Wer nicht teilnimmt, ist praktisch automatisch durchgefallen. Nach zwei weiteren Semestern muß der zweite und letzte Versuch unternommen werden. Noch können sich Studierende dem durch Flucht an eine außerbayerische Universität entziehen. Wenn es jedoch nach dem Juristentag geht, wird es derartige Regelungen bald überall geben — nur sollen sie noch früher greifen.

Umorientierung in der Ex-DDR

Einigkeit herrschte in München darüber, daß eine Umstrukturierung schnell erfolgen müsse, damit die ehemaligen DDR-Fakultäten nach den jetzt anstehenden Umorientierungen wieder zur Ruhe kommen können. Dabei ist die bisherige Form des DDR-Jurastudiums dem DJT- Modell — zumindest, was die Form betrifft — gar nicht so unähnlich, schließlich war das achtsemestrige DDR-Studium völlig verschult und auch kurz genug.

Doch im übrigen sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Ins Auge fallen zuerst natürlich die unterschiedlichen Lehrinhalte. Hier erarbeitet derzeit ein mit BRD-und DDR- JuristInnen besetzter Arbeitskreis unter der Leitung der Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach ein neues Curriculum. Bisher kannte die DDR auch keineN EinheitsjuristIn. Jede Universität bildete einen anderen juristischen Berufszweig aus; so waren zum Beispiel alle angehenden DDR- StaatsanwältInnen in Jena eingeschrieben. Auch ein Referendariat kannte die DDR bislang nicht. Die jetzigen AbgängerInnen müssen deshalb neben einem einjährigen Zusatzkurs in BRD-Recht noch einen zweijährigen praktischen Vorbereitungsdienst leisten.

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR herrscht extremer Mangel an qualifizierten Mitarbeitern in allen juristischen Berufen. Da sich aus dieser Konstellation durchaus passable Berufsaussichten für die jetzt in Westdeutschland studierenden künftigen JuristInnen ableiten lassen (etwas Mobilität vorausgesetzt), ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Stimmung an den Fakultäten noch gegen die aktuellen Gängelungsvorschläge wendet und damit wieder Luft schafft für Gedanken an ein projektorientiertes und so auch problembewußtes wissenschaftliches Studium.

Der Autor ist Redaktionsmitglied von 'Forum Recht‘, ein rechtspolitisches Magazin für Universität und soziale Bewegungen.