Der Bücherklau aus den Bibliotheken ist unvermeidlich

■ Pro Jahr werden 80.000 Bücher aus den Bibliotheken gestohlen/ Juristen sind die eifrigsten Diebe: »Flexibilität bei der Dialektik des Eigentums«

Berlin. Wo geliehen wird, wird auch geklaut. Diese Erfahrung machen die öffentlichen Bibliotheken in Berlin mit ihren lesehungrigen Kunden. Nach Angaben der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten vom Jahr 1987 wird der jährliche Verlust in den 137 öffentlichen Bibliotheken (West-Berlins) auf 80.000 Bücher geschätzt. Das sind etwa zwei Prozent des Gesamtbestandes — der Preis, den die Bibliotheken für die Offenheit ihrer Systeme zahlen.

In der Amerika-Gedenk-Bibliothek (AGB) ist eine genaue Angabe der Verlustziffern nicht möglich, weil dort seit Jahren keine Gesamtinventur mehr durchgeführt wird. Die Einrichtung einer elektronischen Buchsicherungsanlage am Ausgang führt zwar zur Entdeckung, nicht immer aber zur Verhinderung des Diebstahls: hinter den elektronischen Schranken wartet die Freiheit, und für Personal an der Tür gibt es keine Stellen mehr.

Für die Staatsbibliothek nennt Gisela Herdt die Zahl von 200 Bänden, die pro Jahr aus dem offenen Lesesaal gestohlen werden. »Dazu kommt eine stattliche Zahl von Büchern, die wir verlieren, wenn die Benutzer, hauptsächlich Studenten, mit ihren Büchern umziehen«. Ärgerlich sind auch Beschädigungen: statt kopiert werden die Texte aus dem Buch gerissen.

Die schwärzesten Schafe sind nach übereinstimmenden Klagen der Bibliotheken die Juristen. Aus der StaBi werden »systematisch ganze Entscheidungssammlungen des Bundesgerichtshofes« entwendet. Auch juristische Lehrbücher und Zeitschriften sind begehrt. An der Universitätsbibliothek der FU (jährlicher Verlust aus dem Lesesaal: 40 bis 100 Bücher) hat man die angehenden Richter und Staatsanwälte als Hauptschuldige für den Bücherklau ausgemacht. Die launige Erklärung dafür von Ulrich Goerdten von der UB: »Bei diesem Studiengang wird weniger ein starres Normdenken als vielmehr eine gewisse Flexibilität im Umgang mit der Dialektik grundlegender Rechtsbegriffe eingeübt.« Aus der Bibliothek des Fachbereichs Rechtswissenschaft kommt eine andere Erklärung von Otto-Ernst Schmeißer: ja, es komme viel weg, besonders dünne und aktuelle Literatur. Seit Einführung einer elektronischen Buchsicherung habe es sich gebessert, aber etwa zehn Prozent mancher Lehrbücher verschwänden immer noch. »Aber man muß auch sehen, daß Jura ein Buchstudium ist, und daß viel mehr Leute viel mehr Bücher benutzen als anderswo.«

Gute Sitten bescheinigen die Bibliotheken den Ostbenutzern. »Seit der Maueröffnung ist der Trend beim Bücherklau nicht steigend«, betont Ulrich Zawatka von der Kulturverwaltung. Dabei meldeten sich seit dem 9. November allein in der AGB 40.000 neue Benutzer an. Auch Heinz Werner, Direktor der Stadtbibliothek, der ehemaligen Ostberliner Zentralbibliothek, lobt: »Seit dem Mauerfall hat der Bücherdiebstahl mächtig nachgelassen. Erstens sind vorher unerreichbare Bücher jetzt überall zu bekommen, und zweitens haben wir jetzt Kopiermaschinen. Im vergangenen Jahr sind aus dem Lesesaal nur zwölf Bücher verschwunden.«

An anderer Stelle verlottert die vormals sozialistische Moral aber gehörig. In der Deutschen Staatsbibliothek sind die Bücher seit Anfang September durch Magnetstreifen gesichert: Nach dem Anstieg der Preise für Literatur habe die »illegale Ausleihe unerträgliche Ausmaße angenommen«. Bernhard Pötter