Was tun mit Dresden?

Zum ersten Architektur-Forum Dresden  ■ Von Rolf Lautenschläger

Vittorio Magnago Lampugnani brachte die Stimmung beim ersten „Architektur-Forum Dresden“ (vom 18. bis 21.10.) auf den Punkt: „Die dramatische Frage“, so appellierte der Chef des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt/Main an die Teilnehmer, „die hier unentwegt im Raum steht, lautet: Was tun mit Dresden? Was tun mit der so stark zerstörten Stadt, die so schlecht wieder aufgebaut wurde?“ Ganz vage und im Rückkblick auf 40 Jahre Architektur in der DDR versuchte Lampugnani eine Antwort: „Im Spannungsfeld der verschiedenen Vorstellungen“, forderte er, sei „für die Stadt wieder eine Form zu finden, die nicht dogmatisch“ entschieden werden sollte. „Unsere Städte, die wir lieben“, fuhr Lampugnani fort, „sind nicht von einem einzigen Architekten geplant worden, sondern sind immer Schichtungen von Geschichte, sind Konstellationen unterschiedlicher Architekturen gewesen.“ Der Architekturhistoriker schloß mit einem Rat an die Dresdner Architekten und Stadtplaner: „Lassen Sie viele unterschiedliche Architekturen zu. Wenn es überhaupt eine Stadt der Unterschiede gibt, dann ist es die Stadt der Toleranz, die den unterschiedlichsten Menschen die unterschiedlichsten Lebensformen erlaubt. Das wünsche ich Dresden.“

Dem entschiedenen Aufruf Lampugnanis war ein zweitägiger Gesprächsmarathon — bundesdeutsche Architekten diskutierten mit Fachjournalisten — vorausgegangen, der einer Werbeveranstaltung für die prominenten Architekten gleichkam. In salopper Manier parlierten die großen Baumeister selbstgefällig auf dem Podium, damit ihre ostdeutschen Kollegen im Nachhilfeverfahren lernen konnten, welche ästhetischen Positionen und theoretischen Debatten in der zeitgenössischen Architektur im Westen so diskutiert werden.

Gesponsert hatte die West-Show der Baustoffproduzent Hebel aus dem Bayerischen, der sich mehr als nur hohle Worte in Dresden verspricht. Indessen plauderte man über Frei Ottos filigrane Zeltkonstruktionen ebenso wie über Josef Paul Kleihues' stadtplanerische Arbeiten bei der Berliner IBA. Im luftleeren Raum flatterten die postmodernen Häuschen Christoph Sattlers vorbei. Und selbst der Small talk zwischen Meinhard von Gerkan und Werner Strodthoff, mit dem Versuch, sich Dresden zu nähern, schien mehr eine linguistische Übung in gekonnter Ausdrucksweise.

Dresden, so konnte man während der Gespräche im Plenarsaal des Rathauses mit einem Blick nach draußen feststellen, gleicht einer unwirklichen Silhouette in Grau, die an den Wunden der Vergangenheit zu sterben droht. Einen besseren Ort als diese zerstörte Stadt hätte man für die Architekturtagung nicht wählen können, ist doch der genius loci Dresden schon Anreiz genug. Die ehemalige Barockstadt Augusts des Starken ist noch heute von den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs gezeichnet. Von den Prachtbauten an der Elbe sind nur die schlanke Hofkirche, der höfische Zwinger und die wiedererstandene Semper-Oper geblieben. Die Brühlschen Terrassen mit der Hochschule der Bildenden Künste, das Stadtschloß und die schwarze Ruine der Frauenkirche dagegen müssen immer noch die Rollen von Ruinen spielen oder als rußige Mahnmale herhalten, im Gedenken an den Bombenhagel vom Februar 1945, der das nordische „Elb-Florenz“ mitsamt seinen Wohngebieten binnen Stunden niederbrannte.

Zugleich könnte Dresden aber den Beginn eines neuen Umgangs mit historischer Bausubstanz in der ehemaligen DDR markieren. Seine Geschichte und Architektur bieten in besonderem Maße die Gelegenheit, die Stadt mit ihrer verfallenen Originalität neu zu denken und zu planen. „Mit dem Architektur-Forum Dresden wird ein Thema aufgegriffen“, so der Initiator der Veranstaltung, der Journalist Jörg Krichbaum, „das weit über die Tagesaktualität hinausweist“ und für andere Städte in Ostdeutschland beispielhaft werden könnte. Gewiß, es hätte der Veranstaltung nur gut getan, mit dem Thema nicht bis zum zweiten Tag zu warten.

Lampugnanis Appell endlich, der auch die Dresdner Architekten auf das Podium brachte, kam fast zu spät. „Was tun mit Dresden?“ Die Stadt wurde noch auf eine andere Weise zerstört. Der katastrophale Wiederaufbau ist zum Hauptproblem für Dresden geworden, über dessen einst geschlossene innerstädtische Topographie sich nun ein wirrer Stadtplan legt. Große Freiflächen erscheinen wie blinde Flecken auf der Karte. Ins Zentrum rückten unmaßstäbliche Plattencontainer, breite Verkehrsschneisen trennen die innerstädtischen Bezirke. Die Stadtteile wirken indifferent, an Homogenität ist nicht zu denken. Angesichts des baulichen Provisoriums zwischen Elbe und Altmarkt bekommt man Angst, vom Wind erfaßt und weggetragen zu werden. Auch die Prager Straße, einst sozialistische Prachtmeile, assoziiert das Transitäre: Sie ist von „Fliegenden Händlern“ und einer „Shark-Show“ aus der Alt-BRD okkupiert.

Die Chancen eines Stadtumbaus sind dennoch gegeben, jedenfalls dann, wenn man sich nicht an Rekonstruktionsplänen einer barocken Idylle versucht, so der Tenor des Forums. Die Auseinandersetzung mit der zweifachen Zerstörung müßte an entgegengesetzten Orientierungspunkten einsetzen. Einmal könnte ein „Masterplan“ und eine „kritische Analyse des existierenden Stadtgrundrisses“, für die der Hamburger Architekt Meinhard von Gerkan plädiert, Dresden zu neuem Leben verhelfen.

In die städtebaulichen Rahmenpläne würden damit die „häßlichen Spuren baulicher Vergangenheit integriert“, um mit dem Neuen in Dialog zu treten. Eine Konzeption für die Stadt entstünde, die mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitgemäß umgeht. Zum anderen sollte, ausgehend von der alten Mitte am Neumarkt, Stück für Stück nach baulichen Resten gesucht werden, die noch für die urbane Entwicklung taugen und die maßstäbliche Verdichtungen nach sich ziehen könnten. Die Möglichkeiten und Ideen des Stadtumbaus für Dresden liegen somit in der langsamen Entwicklung aus seinem Innern und in der Kühnheit, bei Stadtplanungen Prioritäten zu setzen. Das könnte die autofreie Mitte sein, die „intelligente oder die ökologische Stadt“, wie der Frankfurter Stadtplaner Albert Speer hofft. Schaut man sich die dezentrale Dresdner Struktur an, die vielen Wohn- und Gewerbestandorte, so muß die zukünftige Planung auf dieses kleinteilige Raster reagieren und unterschiedliche, charakteristische Architekturen planen.

Ebenso wichtig für ein modernes Dresden, das im Alten aufgeht und der sozialistischen Plattenbauweise ein innovatives Gesicht gäbe, ist die Auseinandersetzung mit der Barockarchitektur.

Die historische Bausubstanz der Stadt muß, so das Resümée des Architektur-Forums, wenn nicht restauriert, so doch respektiert und mit dem Neuen synthetisiert werden. Mit modernen Mitteln, mit „kritischer Rekonstruktion“ und über „Nahtstellen“, wie sich Karljosef Schattner ausdrückte, würde der moderne Charakter des Umbaus vergegenwärtigt, so daß Zeit und Geschichte, Kontinuität und Diskontinuität der Stadt sichtbar blieben.

„Was tun mit Dresden?“ Mögliche Architektur in Dresden wird sich nicht allein gegen die Vergangenheit, sondern auch gegen die ungewisse Zukunft behaupten müssen. Ebenso wie die Zukunft der zerstörten Stadt aber sind die östlichen Architekten — bislang nur „Partisanen in den Nischen der offiziellen Baupolitik“, wie der Dresdner Architekt Ulf Zimmermann treffend formulierte — unsicher: Was werden mögliche Investoren für Geld und für Probleme mit sich bringen? Schon jetzt steht die neue Stadtverwaltung unter Druck, Bauflächen schnell für billiges Geld zu verscherbeln, ohne daß eine Planungskommision eingesetzt, ohne daß ein Flächennutzungsplan verabschiedet wäre. Wie lange noch geht der Zerfall der Neustadt weiter? Die Stadt am anderen Elbeufer zerfällt, obwohl Hausbesetzer mit wenigen Mitteln in wenigen Monaten mehr saniert haben, als die SED-Riege innerhalb der letzten 20 Jahre. Welche Möglichkeiten zu lernen, welche Chancen der Artikulation haben die Architekten? Die Regulative, die dafür nötig sind, müssen erst noch in die Köpfe der Politiker und der Öffentlichkeit. „Die Verunsicherung“, so faßte der Dresdner Hochschullehrer, Helmut Trauzettel, die Tagung zusammen, gleiche derselben „wie in Goethes Faust II, wo es steil den Berg hinaufgeht und ein mächtiges Gerangel stattfindet wie in der klassischen Walpurgisnacht. Aus den Erfahrungen allerdings, die wir hier machen konnten, müssen wir lernen, unsere Poesie in den Alltag hineinzutragen, daß Dresden kein drittes Mal zerstört wird. Wir müssen die Stadt wieder lebendig machen.“

Eine Ausstellung: „West-östlicher Architektenworkshop Dresden“ wird derzeit im Lichthof des Rathauses gezeigt. Es sind Arbeiten von Architekturstudenten und Hochschullehrern vom Sommer 1990. Es erscheint ein Katalog.