Mülldeponie Weltraum: Im Orbit wird es eng

Nach gut 30 Jahren fliegt den Astronauten der eigene Abfall um die Ohren/ Im All werden selbst kleinste Partikel zu Geschossen/ Mit einem Müllschlucker am Himmel wollen die Amerikaner der Müllschwemme begegnen  ■ Von Silvia Sanides

Die Astronauten der US-Weltraumfähre Challenger rieben sich verdutzt die Augen. Soeben vom Schlaf erwacht entdeckten sie, daß die Frontscheibe ihres um die Erde rotierenden Raumschiffs eine Kerbe aufwies. Nach der Rückkehr lautete die Diagnose der Nasa-Experten: Zusammenprall mit einem weißen Farbsplitter, Durchmesser etwa 0,2 Millimeter, Geschwindigkeit nahezu zehn Kilometer pro Sekunde. Die Challenger-Crew konnte sich glücklich preisen. Ein nur wenig größeres Objekt hätte das dreischichtige Frontfenster vollständig zertrümmert. Das war 1983. Seither ist die Zahl der Objekte menschlichen Ursprungs, die den Weltraum unsicher machen, stetig gewachsen. Hält diese Tendenz an, warnte jetzt das US-amerikanische Kongreßbüro für Technologiefragen, dann wird „die Nutzung einiger erdnaher Umlaufbahnen zu riskant“ werden.

Farbsplitter gehören eher zu den kleineren Übeln. Ausrangierte Satelliten, streunende Sonnenkollektoren, ausgediente atomare Minireaktoren und ganze oder in unzählige Teile explodierte Raketen kreisen in immer größerer Zahl um unsern Planeten. Von der US-Weltraumbehörde Nasa sorgsam überwacht schweben fast 7.000 Stück dieses „Sperrmülls“ mit mehr als zehn Zentimetern Durchmesser in Höhen zwischen 500 und 1.000 Kilometern über unsern Köpfen. Das ist der Raum, in dem Aufklärungs-, Wetter- und Forschungssatelliten zirkulieren und sich die Raumfähren bewegen. Kleinere Trümmerstücke entziehen sich dem wachsamen Auge der Weltraumforscher.

Auf 70.000 wird die Zahl der vagabundierenden Abfallstücke mit Durchmessern zwischen einem und zehn Zentimetern geschätzt, eine volle Million im All deponierter Abfallteile messen immerhin noch mehr als zwei Millimeter.

„Lichtverschmutzung“ auch im All

Die Weltraumfahrer reagieren inzwischen ausgesprochen sensibel auf die Müllprobleme in ihrem Forschungsraum. „Wir sind frustriert und angeekelt. Was unbelastete Umwelt sein sollte, gleicht einem Saustall“, schimpft der Astrophysiker James Ryan. Um der „Lichtverschmutzung“ auf Erden zu entgehen, beförderten die Astronomen ihre Teleskope ins All. Heute müssen sie feststellen, daß es vor der irdischen Umweltverschmutzung selbst dort kein Entrinnen gibt.

Nicht nur die Möglichkeit einer direkten Kollision zwischen Forschungssatelliten und Weltraummüll gibt Anlaß zur Sorge. Schon jetzt verfälscht von Trümmerstücken reflektiertes Licht die Messungen der Teleskope. Radioaktive Stahlung, die im All schwebende Atomreaktoren kontinuierlich emittiert, beeinflußt die Meßwerte vieler Forschungsgeräte.

Als die Sowjetunion vor 32 Jahren mit dem Erfolg von Sputnik 1 den Startschuß zur Eroberung des Weltraums gab, dachte natürlich niemand an Umweltschutz im All. Immerhin, schon 1961 wartete die Nasa erstmals mit einer Bestandsaufnahme der Deponie Weltraum auf. Man zählte 60 Mülleinheiten. Die Zahl stieg jäh an, als noch im gleichen Sommer eine amerikanische Rakete in 296 Stücke zerbarst. So ging es weiter. Fortschrittsfreudig preschten die Weltraumforscher ins außerterrestrische Versuchsgelände; irdischer Müll blieb am Wegesrand zurück. Ausgediente Satelliten durften ungestört ihre alten Bahnen ziehen, leere Antriebsraketen fanden nach getaner Arbeit die letzte Ruhe im All. Sonnenkollektoren und Isoliermaterialien rissen sich von Satelliten los und gingen eigene Wege. Ebenso entzogen sich Werkzeuge, Schrauben und Muttern jedem menschlichen Zugriff, die Astronauten versehentlich im Nichts vergessen hatten.

Der Kalte Krieg sorgte für einen weiteren Schub. Sowjets und Amerikaner zogen es vor, ihre ausgedienten Satelliten im Weltraum zu zerschmettern, damit der neugierige Feind ihrer nicht habhaft werden konnte. Ebenso wenig interessierten noch in jüngster Zeit die Kalten Krieger die Überbleibsel ihrer Anti-Satelliten-Tests, als sie die zerkrümelnde Wirkung des neuen Star Wars- Waffenarsenals an unschuldig um den Planeten kreisenden Objekten erprobten.

Müllhagel bedroht Astronauten

Anlaß genug, vor den anthropogenen Geschossen im All in Deckung zu gehen, gab es schon früh. Als 1978 der sowjetische Satellit Kosmos 954 mit einem kleinen Atomreaktor an Bord abstürzte und kanadischen Boden radioaktiv verseuchte, wurde als mögliche Ursache auch über eine Kollision im Weltraum spekuliert. Ebenfalls 1978 versagte der von der Europäischen Weltraumbehörde gestartete Geos-2-Satellit wegen eines Schadens an den Sonnenkollektoren. Als Ursache wurde der Crash mit einem Fremdkörper angenommen.

Im Mai 1980 meldeten die Himmelsbeobachter gleich fünf near miss-Vorfälle zwischen US-Militärsatelliten und Müllpartikeln in zwei Wochen. Spätestens 1984 konnten die Raumfahrtexperten ihre Augen vor den Gefahren der vagabundierenden Teile und Teilchen nicht mehr verschließen. Elektronische Boxen, die man von dem vier Jahre zuvor auf Umlaufbahn geschossenen Satelliten Solar Max im Weltraum abmontiert und zur Erde zurückgebracht hatte, zeigten auf einem halben Quadratmeter Fläche 150 Einschläge. Nur die Hälfte stammte von natürlichen Mini-Meteoriten. Den Rest besorgten kleinste Trümmerpartikel.

Seither bangen die Raumfahrer um ihr kostspieliges Gerät — und das Leben der Spaziergänger im All. „Wenn ein Astronaut, der im Freien arbeitet, von einem Farbpartikel erwischt wird, könnte das tödlich sein“, fürchtet Parker Temple von der US-Luftwaffe. Mit der Wucht einer Handgranate prallt beispielsweise ein Trümmerstück von nur einem Zentimeter Durchmesser auf, wenn die Geschwindigkeitsdifferenz acht Kilometer in der Sekunde beträgt.

Freunde des Hubble-Weltraumteleskops wußten, daß ihr — inzwischen stark angekratzes — Prunkstück mit einprozentiker Wahrscheinlichkeit vom gleichen Schicksal wie der sowjetische Kosmos-Satellit ereilt wird. Zumindest für ihre Astronauten will die Nasa jetzt das Risiko mindern. Neue, sicherere Weltraumanzüge sollen entwickelt werden. Und die Designer der projektierten US-Weltraumstation Freedom mußten zurück ans Zeichenbrett, nachdem sich gezeigt hatte, daß für die Wartung der Station jährlich bis zu 3.800 Stunden menschliche Arbeitszeit im Weltraum erforderlich werden könnten. Zu gefährlich, entschieden selbst eifrigste Freedom-Befürworter.

Den Verursachern wird der Müllhagel im All allmählich unheimlich. Malcolm Wolfe von der Aerospace Corporation stellte kürzlich fest: „Umweltverschmutzung im Weltraum ist genauso wie auf der Erde: Sie ist eine Sauerei und kaum reversibel.“ Und auch der Nasa-Müllexperte Don Kessler stöhnt: „Wir werden jedesmal, wenn wir eine Rakete ins All schießen, Müll hinterlassen — und wenn es nur Abgase sind.“ Trotzdem will die Nasa das Problem auf mittlere Sicht mit einer typischen „end-of-the-pipe“-Lösung angehen: Ein Roboter soll frei im Weltraum schwebend Müllstücke angeln und in seinem Inneren verschwinden lassen. Doch das ist Zukunftsmusik. Der fliegende Müllschlucker existiert bisher lediglich als Computer- Entwurf.

Weltweit sind die Weltraumbehörden dazu übergegangen, ausgediente Raketen und Satelliten vom Weltraum zurück zur Erde zu befördern. Der heimgerufene Müll verglüht entweder beim Wiedereintritt in die Atmosphäre oder verschwindet — wenn alles gut geht — in den Ozeanen. Sowjets und Europäer gehen neuerdings auch den entgegengesetzten Weg und schießen ihren Schrott auf erdfernere Umlaufbahnen, wohin Raumfähren, Satelliten oder Raketen nur selten schweifen. Den Müllmännern von der Nasa paßt das gar nicht. Diesen Raum, meint Don Kessler, brauche man vielleicht später einmal für andere als Müllentsorgungszwecke. Was immer die Beweggründe sein mögen — das Bemühen der Nasa, die Grenzen menschlicher Umweltverschmutzung nicht noch weiter in die Unendlichkeit des Alls zu schieben, gehört zu ihren lobenswerteren Missionen.