Havels „moralische Tribunale“ reichen nicht

■ Die Bevölkerung der CSFR fordert mehrheitlich die Säuberung von Wirtschaft und Verwaltung/ Zorn richtet sich nicht nur gegen „Wendehälse“, sondern bereits gegen die „linken Herbstrevolutionäre“

„Unsere Revolution kann nicht länger als samtene, sie muß als gestohlene bezeichnet werden.“ Dieser Satz aus der Erklärung der tschechoslowakischen StudentInnen zum ersten Jahrestag „ihrer“ Revolution vom 17. November 1989 ist geradezu symptomatisch für die Stimmung im Volke. Die Lebensmittel sind teurer, die Arbeitsplätze unsicherer geworden — ansonsten aber ist alles beim Alten geblieben. Und vor allem: Immer noch sitzen „die Kommunisten“, also diejenigen, die den ganzen Schlamassel der vergangenen vierzig Jahre zu verantworten haben, auf ihren Posten in Wirtschaft und Verwaltung. Von den Mitgliedern der obersten Führungsgremien wurde bisher lediglich Miroslav Stepán, der Prager Parteichef, aufgrund seines Befehls zum Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten des 28. Oktober 1988 zu 30 Monaten ohne Bewährung verurteilt.

Noch immer ist ungeklärt, „was am 17. November 1989 wirklich geschah“. Ebenfalls unaufgeklärt ist, ob durch den brutalen Polizeieinsatz ein „Putsch“ des liberaleren Parteiflügels der KPC ermöglicht werden sollte. Und schließlich das Thema Parteivermögen: Zwar muß die KPC ihr gesamtes Vermögen in Höhe von 12,3 Milliarden Kronen staatlichen Institutionen zuführen. Der Umfang des Besitzes der ihr nahestehenden Institutionen jedoch liegt noch weitgehend im Dunkeln. Immer hartnäckiger verdichten sich die Gerüchte, daß es ehemaligen Kommunisten in führenden Positionen gelungen ist, ihre Beziehungen zur Gründung von Aktiengesellschaften auszunutzen.

Die Verantwortung für diese Entwicklung wird dem Bürgerforum angelastet — wegen ihrer „sanften, gewaltfreien“ Politik. Die Kritik trifft somit auch Václav Havel. In seinen allwöchentlich vom Rundfunk ausgestrahlten „Gesprächen aus Lány“ hat der Präsident daher die Durchführung sogenannter „moralischer Tribunale“ gefordert. Gleichzeitig betont Havel — und mit ihm auch andere führende Mitglieder der stärksten Gruppierung des Landes — jedoch immer wieder, daß es nach den zahlreichen Säuberungen in der Geschichte der Tschechoslowakei nicht zu einer weiteren kommen dürfe. Kriterium für Beschäftigung oder Entlassung eines Angestellten könne nicht seine Parteizugehörigkeit, sondern müsse allein seine fachliche Kompetenz sein.

Daß auf die Mitarbeit der früheren kommunistischen Nomenklatura gar nicht verzichtet werden kann, wird indes immer deutlicher. Ein Erbe des realsozialistischen Systems, in dem Ausbildung und Positionen vorrangig vom Grad der Beziehungen abhängig waren, ist der Mangel an qualifizierten Fachleuten. Und so bleibt den Abgeordneten des Parlaments die lästige Pflicht, ihren Wählern beizubringen, weshalb viele der zu wählenden Richter ehemalige Mitglieder der KPC sein werden.

Die Partei selbst, die sich immer noch nicht entschieden hat, ob sie sich weiterhin „kommunistisch“ nennen soll, unternimmt zur Zeit ausgesprochen wenig, um die gegen sie gerichteten Vorwürfe zu entkräften. Im Gegenteil: Vasil Mohorita, Erster Sekretär und fast noch als jugendlich zu bezeichnende Hoffnung der überalterten Organisation, schaffte es, eine landesweite Abwehrfront gegen seine Person zu erzeugen. Nachdem er jüngst öffentlich das Ende des Nationalen Dialogs und den Beginn harter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen angekündigt hatte, strömte Prags Bevölkerung in Massen zu einer Anti-Mohorita-Kundgebung, und die Abgeordneten der Föderalversammlung stimmten für den sofortigen Rücktritt Mohoritas aus dem Präsidium dieses Parlaments.

Nur wenig später wurden dann ganz andere Töne laut: Angegriffen wurden plötzlich nicht nur die „Wendehälse“, sondern auch all diejenigen, die zwar Kommunisten gewesen waren, seit über zwanzig Jahren jedoch in Opposition zur realsozialistischen Herrschaftsclique gestanden hatten. So manche Gruppe auf der rechten Seite des politischen Spektrums forderte gar den Rücktritt von Jiri Dienstbier und Alexander Dubcek, dem Protagonisten des Prager Frühlings. Václav Havel wird beschuldigt, sich mit zu vielen Reformkommunisten zu umgeben. Die „Jagd“ auf die Mitglieder der KPC hat zwar, den Befürchtungen von Mohorita und Co. zum Trotz, noch nicht begonnen. Sollte jedoch — und das wird allseits erwartet — mit der Liberalisierung der Preise der Lebensstandard der Tschechen und Slowaken weiter sinken, könnte aus der Jagd auf Kommunisten schnell eine auf die „linken Revolutionäre“ des Prager Herbstes 1989 werden. Sabine Herre, Prag