Volkszorn gegen PDS ist kein Einzelfall — in den Ländern Ostmitteleuropas steigt mit der Verelendung die Wut
: Schuld und Sühne?

■ Was tun mit den großen und kleinen Machthabern des untergegangenen Realsozialismus? Großreinemachen? Exemplarische Prozesse mit reinigender Wirkung? Vergeben und Vergessen? Im vormaligen Ostblock steht jede Regierung vor dem Dilemma, dem Volkswillen Genüge zu tun und gleichzeitig auf Aussöhnung hinarbeiten zu müssen. Situationsberichte aus Ungarn, der CSFR und Polen

Ostmitteleuropa hat die Euphorie längst hinter sich. Angesichts der Milliardenschulden, der konkursreifen Länder und der sich vertiefenden Krise wird eine Frage immer häufiger gestellt: Wer ist Schuld an alledem? Das ist auch eines der wichtigsten Themen der Debatte des ungarischen Parlaments, dem das regierende Demokratische Forum in dieser Woche einen elf Punkte umfassenden „Justitia-Plan“ vorlegt.

„Wir können das Vertrauen der Bürger nur gewinnen, wenn wir in all jenen Fällen, die als Ungerechtigkeiten betrachtet werden, Gerechtigkeit zu sprechen versuchen“, steht in der Einleitung der Vorlage. Im Interesse eines solchen Versuchs wurde die Regierung durch einen Parlamentsbeschluß angewiesen, eine Studie zu erstellen, die „Wirtschaft, Politik, Entscheidungen und Entscheidungsfindungsmethoden der Zeit nach 1956 wahrheitsgetreu vorstellt“ sowie die Verantwortung einzelner untersucht — einschließlich der politischen Verantwortung. „Der Entwurf schlägt bei Bedarf die Einleitung von Strafverfahren gegen die Verantwortlichen für die katastrophale Lage des Landes vor.“

„Man muß zwei Dinge voneinander trennen“, sagt der Soziologe György Bence. Seiner Meinung nach wäre nur gegen diejenigen kommunistischen Exfunktionäre gerichtlich vorzugehen, die sich krimineller Vergehen schuldig gemacht hätten. „Etwas völlig anderes ist, was üblicherweise als „Kaputtmachen des Landes“ bezeichnet wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man jemanden zur Verantwortung ziehen müßte oder könnte, weil er schlechte Politik gemacht, schlechte Entscheidungen gefällt hat.“

Aburteilung nur bei kriminellen Delikten

Dieselbe Ansicht vertritt auch der Ökonom Tamás Bauer: „Nach Kriegen primitiver Stämme wird der Verlierer bestraft, manchmal aufgegessen, aber zumindest versklavt. Die modernen bürgerlichen Gesellschaften haben gerade deshalb die Legislative und die Jurisdiktion getrennt, damit der politische Sieger nicht über den Verlierer urteilen kann.“ Erlaubt sei das Richten nur in Fällen krimineller Delikte.

Der „Justitia-Plan“ des Demokratischen Forums sieht hingegen breitangelegte Untersuchungen als notwendig an. Aus der Vorlage geht nicht hervor, wer diese durchführen sollte. Vorgeschlagen wird, die Regierung möge „die Vermögensüberprüfungen bis zurück zum 4. November 1956 vorbereiten“. Das wird von den meisten Ungarn als undurchführbar bezeichnet, wie auch der Vorschlag, „die Einkommen der seit 1956 aus politischen Positionen in Pension gegangenen Personen zu überprüfen. Diese sollen nur die ihrer ursprünglichen Beschäftigung entsprechenden Beträge erhalten.“

„Das wäre völlig absurd“, meint Peter Molnár, Abgeordneter vom Bundes Junger Demokraten. „Damit würden wir behaupten, daß bei uns in den vergangenen 34 Jahren nur sündige, schlechte Politiker tätig gewesen sind. Die Alternative ist schlichtweg unvorstellbar: Jahrzehnte zurückreichende Vorfälle bis hinunter zum letzten Dorf-Parteisekretär untersuchen.“ Natürlich möchten auch die Jungdemokraten einiges wissen, zum Beispiel: Wer war verantwortlich für die unmenschliche Repression nach der Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956, für die Torpedierung der Wirtschaftsreformen im Jahre 1972, für die heutige Verschuldung Ungarns sowie für die bewußt gefälschten Berechnungen, die dem Parlament über den Bau des Donaukraftwerks Nagymaros vorgelegt worden waren?

„Das sind Fragen völlig unterschiedlichen Gewichts und gleichzeitig völlig willkürlich ausgewählt“, wendet Tamás Bauer ein. „Warum wünscht man beispielsweise nicht die Verantwortung für die Teilnahme an der Tschechoslowakei-Invasion von 1968 zu untersuchen. Wenn wir auch nur an einem Punkt anfangen, werden immer neue auftauchen.“

Mit diesem Einwand Bauers ist selbst seine eigene Partei, der Bund Freier Demokraten, nur eingeschränkt einverstanden. Sie wollen auf jeden Fall die einstigen Geheimagenten aus der Politik ausschließen. Peter Hack schlägt vor, die Polizeilisten dem Staatspräsidenten zu übergeben; sollte dieser aktive Politiker unter ihnen entdecken, könnte er sie unter vier Augen zum stillen Rückzug auffordern. Eine Veröffentlichung wäre nur notwendig, falls die Betroffenen die Pensionierung ablehnen.

„Wir müssen großzügig sein“

Dagegen hat wiederum Innenminister Baláza Horvath etwas einzuwenden: „Meiner Meinung nach ist die Namensliste längst nicht mehr vollständig — die größten Fische sind durch die Maschen. Außerdem existieren nur Namenslisten, die Dossiers sind leer — also bestünde auch die Gefahr von Fälschungen.“

„Wir müssen großzügig und verzeihend sein“, sagt der Schriftsteller György Konrád. „Wir beginnen ein System aufzubauen, das auf Rechtssicherheit und der Unantastbarkeit des Eigentums beruht. Das kann nicht damit beginnen, daß wir Menschen die Pension entziehen und die Wohnung wegnehmen. Keine Rechtsbestimmung erlaubt es, daß die Unterdrückten über die Unterdrücker urteilen. Überlassen wir das lieber der Geschichte.“ Tibor Fényi, Budapest