Verbundene Schönheit

■ »Pathetische Rhetorik« — die Moskauer Künstlergruppe »AES« im Inter Art

Hinter dem Kürzel »AES« verbergen sich drei Moskauer Künstler: Tatjana Arzamasowa, Lew Evzovitch und Evgeni Svjatski, ein Dreierkollektiv, das jedes einzelne Objekt gemeinsam gestaltet. Mit dem Gemäldezyklus Pathetische Rhetorik (1990) stellt die Gruppe zum erstenmal in Deutschland aus. Ihre Botschaft kann in großen kyrillischen Buchstaben vom Fußboden aufgelesen werden. Der Schriftzug läuft auf ein eingerahmtes Zitat aus Dostojewskis Der Jüngling zu: »Das irdische Paradies der Menschheit: Götter stiegen vom Himmel hernieder und verschwägerten sich mit den Menschen! Sie standen auf und erwachten glücklich!« Die Rückkehr zu den vorrevolutionären Utopien des 19. Jahrhunderts aber bricht mitten im Wort ab. Von dem russischen Wort »glücklich« bleiben nur die ersten drei Buchstaben übrig. Die Fragmentierung erzielt neuerlich Pathetik: Brechungen, die sich bis ins Unendliche schlechter romantischer Ästhetik fortführen ließen.

Irgend etwas aber ist hier anders. Zwar sieht sich der Betrachter mit vielfältigen, scheinbar beliebigen Zitaten aus der Kunstgeschichte konfrontiert, deren Anspielungen von der russischen Kirchenmalerei über den französischen Klassizismus und die romantisierende Landschaftsmalerei bis zum Heroengemälde der Renaissance reichen. An den Sujets wird aber nicht die immergleiche pathetische Brechung des Ausdrucks hervorgehoben. Statt dessen hat man die erhabene Körpersprache von Schmerz und Verwundung in weiße Tücher eingeschlagen. Verletzungen gilt es zu schützen, auch weil es längst kein Tabubruch mehr ist, sie öffentlich beglotzen zu lassen. Auf der neu entstandenen Malfläche der Verbände sind im Stil der Computergraphik die groben Schemata menschlicher Körper skizziert. Markiert sind jeweils die anatomischen Befunde der in den Gemälden versteckten Verletzungen. Der pathetische Gestus des Zeige-deine-Wunde sieht sich ins Krankenhaus eingewiesen.

Der Nerv gegenwärtiger Kunstpräsentation könnte besser nicht freigelegt werden. Das Kunstwerk, von den konservativen Ideologen des Erhabenen kultisch verehrt und zur musealen Wirkungslosigkeit verurteilt, in der nichts an den »Selbstmord des Künstlers durch die Gesellschaft« (Artaud) erinnern darf, wird in den Kontext seiner klinischen Produktionsbedingungen zurückversetzt: »AES« legen ihre Installationen an den Tropf. Mit Hilfe von zehn Farbbeuteln, die durch die Ausstellungswand miteinander verbunden sind, wird ein Heldentod in schwarzweiß auf der angrenzenden Seite des zweiten Ausstellungsraumes in seine ursprüngliche Buntheit zurückverwandelt. Die Bilder hätten ihre Vielfarbigkeit längst abgelegt, würde ihnen nicht diese künstliche Transfusion zugeführt.

Anders als die Auseinandersetzungen mit der kapitalistischen Kunstrezeption in Pathetische Rhetorik hat sich die Ausstellung zu dem Thema Apollo inspiriert einen Dichter von 1989, die in einem separaten Raum der Galerie zu sehen ist, mit den Bedingungen von Kunst in der Sowjetunion beschäftigt. Ausgangspunkt ist ein Poussin-Gemälde gleichen Titels: Inspiration, die sich der Künstler immer noch vom Himmel erwartet, den er erwartungsvoll anblickt, ereignet sich, indem der Zeigefinger Apollos ihn auf die leeren Seiten des Buches verweist. »AES« haben durch unterschiedliche farbige Gestaltung der einzelnen Figuren diese voneinander isoliert. Ihr vorbildliches Miteinander ist aufgehoben. Zu sehr erinnerte die Pose Apollos die russischen Künstler an das dogmatische Diktat des sozialistischen Realismus, der einen künstlerisch gesuchten Transzendenzbezug ignorierte. Durch die Verwendung des klassischen Musenmodells aber wird zugleich deutlich, daß es bei dieser einseitigen Gegensätzlichkeit nicht bleiben kann. Der Wunsch nach Schönheit und Pathos ginge ohne inspirierende Kritik schlecht aus. Thomas Schröder

Die Ausstellung ist in der Galerie Inter Art, Potsdamer Straße 93, Berlin 30 bis zum 30. November zu sehen.