Wenn es kalt wird, s sei ohne Sorge

■ Herbstzeitlosigkeit hinter den Gardinen der Cafés

Bekannte Gaststätten sind uninteressant. Wie Filme, die man zu oft gesehen hat, vermitteln sie dem Stammgast das Gefühl der Unausweichlichkeit seiner Vergangenheit, locken ihn mit nie gehaltenen Versprechungen oder verführen ihn dazu, sich noch einmal zu spielen. So bricht der Stammgast auf, sich in der Fremde neu und fremd wiederzufinden.

»wohin aber gehen wir

ohne sorge, sei ohne sorge

wenn es dunkel und wenn es kalt wird

sei ohne sorge«

Ingeborg Bachmann

Eine Zeitlang vermischen sich noch Herbst, Sommer, Winter, dann wird es grau, naß, kalt. Bleibt man in der Wohnung, weiß man nicht, ob es morgens oder mittags ist. Geht man raus und dann wieder in die S-Bahn, um aus der S-Bahn hinauszuschauen, freut man sich darüber, daß zumindest noch an einer blinden Hauswand fraglose Klarheit herrscht: »Wer CDU wählt, hat Scheiße im Kopp.«

Um zwei beginnt der Abend auf den Straßen, so daß man von den Straßen verschwindet, um hinter Gardinen die Zeitlosigkeit zu genießen. Die Zeit scheint einige Orte in der Stadt vergessen zu haben, und die Orte haben die Zeit vergessen. Im »Eiscafé Ilka«, ein paar Meter vor dem »Babylon« in der Rosa-Luxemburg-Straße, hocken Frauen zwischen 40 und 60 an runden Tischen. Glasscheiben liegen über grünen Decken. Borkenmuster, das am Rande vorsteht, korrespondiert mit dem Bezug sachlich schöner Stühle. Allein oder in Gruppen bedenken die Gäste die Lage bei Kaffee, Weinbrand und Kuchen. Nachdenklich spielen Ocker und Grün an den Wänden. Als wäre man nie gekommen und würde nie mehr gehen. Draußen hinter den Gardinen mischen sich Grau und Blau (als wäre man weit fort) und sichern teilnehmende Abgeschiedenheit.

Ocker, Braun oder Gelb gibt den Heimatlosen in den meisten Cafés des Zentrums eine Zeitlang zumindest das Gefühl, ausruhen zu können. Hinter den Scheiben der »Berliner Kaffeestuben« am Alexanderplatz verliert das Treiben dort draußen seine gezielte Sinnlosigkeit. Ziellos irrt drinnen die Sentimentalität umher, die sich einiger polnischer Zeitungen vom Ständer bemächtigt. Frauen auf rundgewundenen Bänken warten auf irgend etwas. Hütchenspieler ruhen sich vom Tagwerk aus. Männer sitzen am Fenster und schauen hinaus. Andere trinken nur. Einzelne geben sich selbst die Gesellschaft der Dinge, die sie aus Taschen ziehen und auf dem Tisch ausbreiten. Ein Bier befreundet sich mit den Nächsten. Zwei reden miteinander, bevor der Weg sich teilt zwischen Damen- oder Herrentoilette. Man findet hinaus und wieder hinein, um das S-Bahn-Grün, immer noch am Alex, vom ersten Stock des »Eiscafé Polar« aus zu bewundern. Zwischen Plasteholzimitationen, honiggelben Tischdecken und russischem Wodka, den man ansonsten nur noch selten auf dem Gebiet der Ehemaligen zu trinken kriegt, finden sich die untrüglichen Kennzeichen nicht korrumpierter Gastronomie: die Sansevieria stößt an die mit Rauch gesättigte Gardine. Der Blick verirrt sich in die Büroräume gegenüber und findet Halt an Turm und Bahnhof.

Neben den großen Kinos gibt es nicht weniger schöne Cafés. Neben dem »Kosmos«, zwischen den schönsten Hochhäusern Berlins in der Karl-Marx-Allee 100, zeigt sich europäischer Kaffeehauscharme im »Café Kosmos«. 1956 wurde es gebaut und steht seitdem unter Denkmalschutz. Wertvoll und erhaltenswert sind die fünfziger Jahre: die dezenten Farbkombinationen schlanker Kacheln zum Beispiel an den Raumteilern, aus denen nur manchmal etwas vorwitzig ein bißchen Zitronengelb hervorsticht; das 1957 von Professor Friedrich geschaffene Wandbild oder einfach nur ein bemerkenswerter Kaffee-und-Kuchen- Schriftzug. Karamel-, Creme- und Kakaofarben dominieren sowohl im Saal als auch in den gastronomischen Erzeugnissen. Montag ist ein schlechter Kuchentag. »Der Fußboden wurde aus verschiedenem in- und ausländischem Marmor zusammengesetzt« (Speisekarte). Keine Gardine behindert den Blick auf die beschränkte Weite der Straßen der Ehemaligen. Zu mehreren übereinandersitzend, trauern draußen ein paar Stühle dem Sommer nach.

Drei Stationen weiter, neben dem Kino »International« am U-Bahnhof Schillingstraße, wartet die »Mocca- Milch-Eisbar«, ein großzügiger Sechziger-Jahre-Kasten. Im Innern dudelt unentwegt und dezent »Antenne Brandenburg«. Auf einer Galerie schaut man hinunter, ungestört, zu den anderen. Alles ist pink. Wie Erdbeereis. Mit zufälligen Bekannten wird über unkomplizierte Dinge geredet. Milchig liegt das Licht auf rosa Tischdecken. Durchs Fenster über die Straße blickt man hinüber zum »Moskau«, einem dezent repräsentativen Gastronomiekomplex, der einmal deutsch-sowjetische Freundschaft dokumentieren sollte.

In den achtziger Jahren wurde es neu ausgestaltet. Gerd Pieper, der auch die »Kaffeestuben« eingerichtet hat, hatte ein paar Wochen lang Moskauer Kneipen studiert, um ein authentisches Ambiente zu schaffen, das sich allerdings eher an den Moskauer Luxusrestaurants orientiert. Zur Einrichtung des »Peking«-Restaurants« in der Friedrichstraße hatte er nicht nach China fahren können, weil er kein Reisekader war. Funktionäre fuhren statt dessen und guckten und erzählten hernach. Als Trostpflaster durfte er in der Mongolei ein Berliner Restaurant gestalten.

Im Flur des »Moskau« jedenfalls herrscht Mantelabgabezwang. Links liegt das Restaurant für ukrainische und russische Spezialitäten; rechts weich und rot die »Natascha-Bar«, in der zwei Männer einsam trinken, als wären sie in einem Film über einsam trinkende Männer. Im ersten Stock, im Tanzcafé, dessen Leere (die Leute haben kein Geld mehr) durch dunkle Brauntöne und weiches Licht dezent kaschiert wird, sitzt man vornehm zurückgezogen am Fenster und blickt auf breite, weite Straßen, die so still sind, als hätte es nie eine Vereinigung gegeben. Auf weißen Stoffdecken liegen grüne Papierdecken. Rund und orange blickt das Licht auf die Theke an der Bar am Rande. Traurig oder entschlossen fröhlich tanzen drei Paare um die fünfzig ein wenig Foxtrott. »Irgendwie ist es nicht mehr wie es war« und »give peace a chance«, singt der Schlagersänger in der deutschen Version von San Francisco. Zwei Meter hohe Pflanzen meinen: »‘California dreams‚ sind vielleicht noch nicht ausgeträumt.« Und am Ende sagt der Diskjockey: »Ja, liebe Gäste, das war unser trauriger Freitagnachmittag.«

Und der Abend beginnt zwischen Hochhäusern und ein paar Imbißwohnwagen ein paar Meter weiter in der »Clubgaststätte Pünktchen« (Schillingstraße). Dort sitzen Männer nach der Arbeit in Gruppen oder allein an Tischen. Ein paar Mopedfahrer stehen am extrabreiten Siebziger-Jahre-Flipper. Beige und carokaffeebraun sind die Wände. Stores sind grasgrün, Gardinen vergilbt. Steinfußboden. Hinter der Kasse auf einem Pult neben der Theke stehen Serviererinnen in dunkelblauen Kostümen. Manchmal tanzen sie mit angetrunkenen Stammgästen. Zwei merkwürdige Rouleaus hängen schräg von der Decke und teilen sinnlos den Raum. Auf den Tischen stehen Plastikblümchen. Alles kann geschehen, doch nichts geschieht. Detlef Kuhlbrodt