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Kein neues Gesicht

Zu den 24. internationalen Filmtagen in Hof  ■ Von Ute Thon

Die Taxifahrerin stöhnt: „Das ist doch kein Leben mehr hier. Können die von Drüben nicht auch mal woanders hinfahren? Was wir seit dem letzten Herbst schon mitmachen mußten ...“

Vieles hat sich verändert im oberfränkischen Hof. Auf der nahegelegenen Autobahn bilden sich jetzt täglich Staus. Endlose Trabi-Schlangen verpesten die Luft und verstopfen die engen Straßen. Seit der Öffnung der Grenzen im vergangenen November ist das verschlafene Städtchen zur Einkaufsmetropole der sächsischen und thüringischen Nachbarn geworden. Die schmucke Diskothek, in der das Filmvolk sich während des Festivals alle Jahre feierte, wurde zum Wohnheim für Aus- und Übersiedler umfunktioniert. Hotelbetten sind in diesem Jahr noch knapper als sonst. Man liege nun im „Mittelpunkt eines veränderten, freien Europa“, verkündete der Hofer Bürgermeister auf dem traditionellen Filmtage-Empfang mit Stolz, eine Tatsache, die den Internationalen Hofer Filmtagen „ein neues Gesicht verleihen“ werde. Seine geistreiche Wortschöpfung: HOF = Home of Films. Dagegen konstatierte Festivalchef Heinz Badewitz im Vorwort des Programmkatalogs nüchtern: „Die Filmtage bleiben trotz dieser politischen Umwälzungen ihrer Programmlinie treu.“

Tatsächlich zeigte sich das Festivalprogramm nahezu unbeeinflußt von den jüngsten politischen Ereignissen. Mit seinem Schwerpunkt deutscher und deutschsprachiger Filme waren die Hofer Filmtage merkwürdigerweise trotz ihrer Grenznähe nie ein ostdeutsches geschweige denn osteuropäisches Forum und sind es auch jetzt nach dem Fall der Grenzen nicht geworden. Immer noch herrscht eine besondere Vorliebe fürs junge amerikanische Kino — dieses Jahr waren allein elf amerikanische Filme zu sehen. Nach polnischen, tschechischen oder ungarischen Produktionen suchte man dagegen vergebens. Lediglich ein sowjetischer und ein jugoslawischer Film standen auf dem Programm. Nur vier Filme thematisierten direkt die aktuelle Ost-West-Problematik. Einer davon dafür aber um so heftiger.

„Sie kamen als Fremde und wurden zu Wurst“, darunter ein Schweinskopf, der von einem Schlachterbeil zerteilt wird — Plakat und Titel von Christoph Schlingensiefs neuestem Film Das deutsche Kettensägenmassaker — Die erste Stunde der Wiedervereinigung künden unmißverständlich vom drohenden Unheil. Der junge Regisseur, der seit 1985 Jahr für Jahr mit seinen provokanten Filmen (Egomania, Mutters Maske, 100 Jahre Adolf Hitler) in Hof gastierte, probte diesmal den endgültigen Angriff auf den guten Geschmack. Inspiriert vom Go- West-Fieber der Ostdeutschen und der Tatsache, daß vier Prozent der DDR-Bevölkerung ihr ehemaliges Heimatland zwar verlassen haben, aber in keinem westdeutschen Meldeverzeichnis wieder aufgetaucht sind, entwarf Schlingensief ein grelles Horrorszenario, nach dem diese Verschwundenen von perversen DDR-Hassern grausam massakriert und zu Wurst verarbeitet wurden. Alfred Edel verfolgt als Schlachtermeister mit blutverschmierter Gummischürze und Kettensäge verängstigte Ostler, Irm Hermann spielt die hysterisch-stramme Grenzpolizistin, Hände werden abgehackt, Kehlen durchschnitten und Eingeweide zersägt, daß das Filmblut nur so spritzt. Alles jedoch so billig, bewußt unecht und in schlechtester Splatter-Manier inszeniert, daß einem nicht übel, sondern allenfalls langweilig wird.

Schlingensief hat die provozierend-boshafte Idee, den schwelenden „Ostler„-Haß in seiner ganzen Primitivität ans Licht zu zerren, zugunsten sehr oberflächlicher Gags verschenkt. Genaues Hinsehen und -hören hätten ihn spitzfindigere ostdeutsche Charakteristika finden lassen als nur den wenig überzeugend sächselnden Vollbart-Trabi-Fahrer.

Keine Hofer Entdeckung, weil schon im letzten Jahr in Cannes zu sehen und doch einer der schönsten Filme des Festivals, war Emir Kusturicas Time of the Gypsies. In atemberaubenden Bildern erzählt der jugoslawische Regisseur die Geschichte des Zigeunerjungen Perhan, der aus der brüchigen Idylle seines jugoslawischen Heimatortes ins Halbweltmilieu italienischer Großstädte gerät. Der Film hat alles, was großes Kino auszeichnet: hervorragende Darsteller, ausdrucksstarke Gesichter jenseits des Hollywood- Postkartenformats, magische Kraft und einen unverblümten Realismus, der sich nicht scheut, die Kehrseiten des romantischen Zigeunerlebens zu zeigen: Kleinkriminalität, Kuppelei, Kinderhandel und Prostitution. Eine Tragödie, die das Publikum 142 Minuten lang fesselt, ohne in folkloristische Klisches zu verfallen.

Unter den deutschen Produktionen gab es wenig Überraschungen. Jan Schütte, der schon mit seinem ersten Spielfilmdebüt Drachenfutter Regietalent bewiesen hat, präsentierte mit Winckelmanns Reisen (ab 22.11. im Kino) wieder ein unprätentiöses Werk in Schwarzweiß. Mit unverkennbarer Vorliebe für Außenseitergeschichten beschreibt er diesmal den traurigen Alltag eines Handlungsreisenden in Sachen Haarpflegemittel. Wolf-Dietrich Sprenger reist als Shampoo-Vertreter Winckelmann durch die tristen Kleinstädte Schleswig-Holsteins. In Geschäftsdingen nur mäßig erfolgreich und in Liebesdingen unentschlossen, bleibt er am Ende allein. Schüttes Figuren erinnern an die einsamen Helden des finnischen Filmemachers Aki Kaurismäki, doch es fehlt ihnen deren lakonische Subversivität. Deutsche Schwermut lastet schwer.

Unter den Erstlingswerken waren vor allem die Regie-Arbeiten zweier Frauen bemerkenswert: Angeliki Antonious Dokumentarfilm Gefangene des Meeres und Bettina Wilhelms Hommage an die Berliner Diseuse Georgette Dee All of Me. Die DFFB-Absolventin Antoniou zeichnet in schlichten Bildern den Alltag der Schwammtaucher auf der griechischen Insel Kalymnos nach, deren Existenzgrundlage zunehmend gefährdet scheint, weil die Meeresgewächse von einer seltsamen Krankheit befallen sind. Schade nur, daß die Autorin dem brisantesten Aspekt ihrer Dokumentation — die Taucher vermuten, daß die Ursache für das Schwammsterben in dem Reaktorunfall in Tschernobyl liegt — nicht mehr Interesse geschenkt hat.

Bettina Wilhelms Debütfilm lebt von der androgynen Aura des Transsexuellen Georgette Dee, mit dem sie zusammen das Drehbuch entwickelt hat. In der Rolle der Diseuse Orlanda, die im Widerstreit zwischen erklärter Freiheit, kühler erotischer Souveränität auf der Bühne und kleinlichem alltäglichen Beziehungsstreit hin- und herjongliert, spielt Georgette sich selbst. Teile seines Revueprogramms wurden in eine Spielhandlung eingebaut, die die Protagonisten ins morbide Warschau führt. Die strenge, leicht theatralische Inszenierung und die unzeitgemäßen Chansons verleihen dem Film einen eigentümlich antiquierten Charme. Zudem gibt es ein Wiedersehen mit dem talentierten polnischen Schauspieler Miroslaw Baka (der einsame Taximörder aus Kieslowskis Kurzer Film über das Töten).

Ärgerlich, nicht nur in Hof, sondern im derzeitigen Filmgeschäft überhaupt, ist der verschärfte Einsatz sommersprossiger Kindergesichter und großer trauriger Kinderaugen. Unter dem Vorwand, kindliche Innenwelten zu spiegeln, werden vorzugsweise acht- bis zehnjährige Knaben vor die Kamera gelockt, um doch wieder nur das zu spielen, was Erwachsene an eigenen Problemen auf diese Kleinen projizieren. In Hof gleich viermal gesehen. Auslösendes Motiv für das bedeutungsschwere Schweigen der Kleinen war in drei Fällen der Tod einer geliebten Person. Mal die Großmutter in der österreich-schweizerischen Produktion Mirakel, mal die Mutter, wie in Petra K. Wagners pseudosoziologischer Randgruppenstudie Staub vor der Sonne, oder wie bei dem österreichischen Eröffnungsfilm Zeit der Rache. Wer einmal die scheinbar taktlosen Bemerkungen von Kindern auf einer Trauerfeier gehört hat und deren verrückte Übersprungshandlungen miterlebte, dem müßten andere filmische Mittel einfallen als das gängige Stumm-gleich-Traurig-Klischee.

Dramaturgisch überzeugend wirkte der Kinderauftritt nur bei Giuseppe Tornatore. Die Filmkinder in seinem Spielfilm Stanno tutti bene werden von vornherein explizit als Projektionen des Vaters ausgewiesen. Die Rolle des alternden sizilianischen Familienoberhaupts, der als betagter Pensionär noch einmal seine Kinder besucht, spielt hinreißend schrullig Marcello Mastroianni. Er lebt so sehr in einer vergangenen, scheinbar heilen Welt, daß ihm die inzwischen längst Erwachsenen im Geiste immer noch als kleine folgsame Kinder erscheinen. Tornatore hat mit diesem Film dem Alterswerk Mastroiannis eine neue Glanzrolle hinzugefügt.

Stanno tutti bene gehört zu einem Dreierpaket großer Produktionen, die die amerikanische 20th Century Fox Filmgesellschaft in Hof dem Publikum vorstellte, quasi als Testmarkt, bevor die Filme in den nächsten Monaten in die deutschen Kinos kommen. Außerdem bei Fox im Verleih und in Hof zu sehen waren Paul Schraders umstrittenes erotisches Venedig-Abenteuer Comfort of Strangers (siehe nächste Seite) und der neueste Film der Coen-Brüder Miller's Crossing. Nach ihrer spitzfindigen Detektivfilm-Persiflage Blood Simple bewegen sie sich diesmal im Gangstermilieu. Herausgekommen ist ein exzellentes „dirty town movie“, dessen Image sie treffend so beschreiben: „Große Jungs in langen Mänteln in der Natur — das Mißverhältnis zwischen Stadtgangstern und ländlicher Gegend.“ Wieder spielt Sprache eine zentrale Rolle. Die präzisen Dialoge klingen nach bestem Hammett- oder Chandler-Stil. Sehr, sehr cool.

Festivalchef Badewitz' formulierter Anspruch, auf dem Festival Filme zu „machen“, d.h. dem noch Unbekannten eine Chance zu geben und Talente zu entdecken, kann angesichts der Präsenz großer, auf anderen Filmfesten schon hinlänglich gefeierter Produktionen mit prominenter Besetzung im Programm nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch das Hofer Publikum die großen, perfekten Streifen braucht, um die kleinen unansehnlichen zu verdauen. Die Godards, die Tornatores, die Hoppers, die ... Es gäbe noch einige gelungene Filme zu erwähnen, doch sie hatten bereits alle einen Verleih, bevor sie nach Hof kamen, sind also schon „gemacht“. Darüber hinaus gab es nicht viel zu entdecken.

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