Londons Suburb in Nordfrankreich

■ Londoner Anleger stecken bereits ihre Claims im französischen Hinterland ab

Schon waren zwei Kilometer Tunnel gebuddelt, da — wir schreiben das Jahr 1882 — rief die 'Times‘: Stop! Eine unterirdische Verbindung zum Festland hätte eine Invasion der „frogs“, der froschfressenden Franzosen zur Folge ... My Goodness! Das Projekt wurde unverzüglich gestoppt.

Heute hingegen sind es die Engländer selbst, die zur Invasion angesetzt haben: durch Landnahme in der französischen Kanalregion Pas-de- Calais. Denn sobald der Tunnel fertig ist, könnten Küstenstädte wie Calais, Boulogne-sur-Mer, Gravelines zur Suburb von London werden. Gute zwei Stunden von Calais bis in die City — etwas weit für tägliches Pendeln, aber genau die richtig fürs verlängerte Weekend.

Während tief unter dem Kanal noch die Tunnelfräsen nagen, grasen die englischen Cottage-Hunter bereits das Hinterland der nordfranzösischen Cote d'Opale ab, auf der Suche nach romantisch verfallenen Bauernhöfen und Landschlössern. Besonders begehrt sind die Täler auf der Höhe von Berck, die mit ihren Seen an das Original-Südengland erinnern.

Noch im letzten Jahr waren Immobilien hier fünf- bis zehnmal billiger als auf der anderen Kanalseite. Während hüben die Krise der Minen- und Werftenregion Pas-de-Calais die Nachfrage nach adretten Residenzen drastisch senkte, gehört drüben die Grafschaft Kent zum begehrten Lustobjekt der Krisengewinnler aus dem Reich Maggie Thatchers. Noch im letzten Jahr kostete eine Villa am Meer in Le Touquet weniger als eine Million Francs (300.000 Mark). Heute das zwei- bis dreifache.

Was im Vergleich zu Kent oder Sussex immer noch spottbillig wäre. Selbst die englischen Tunnelbauer mußten auf ihrer Baustelle an der Shakespeare Cliff mit einem Drittel des Platzes auskommen, über den ihre französischen Kollegen verfügen: der Boden war einfach zu teuer.

Schon gibt es mit 'Inter-Opal- Kent‘ ein Anzeigenblatt (Auflage: 40.000) für Anleger, schon plant die Londoner Finanzgruppe „Arlington Securities“ ein 110-Hektar-Geschäftszentrum bei Calais, und schon steht ein erstes Pub in Inxent, im „little valley of the River Course“, wie es in Maklerkreisen heißt, einem 200-Einwohner-Flecken, wo sich vor Jahren noch kaum ein Lebensmittelgeschäft halten konnte. Und: zum Entsetzen der dortigen Anwohner sinken jetzt plötzlich die Grundstückspreise in Kent. Das Prinzip der kommunizierenden Röhren funktioniert also auch, wenn noch gar keine Kanalröhre vorhanden ist.

Auch bei den Reedereien, den großen Gegnern des Tunnel-Projekts, sinken die Preise. Im Kampf gegen die Röhre modernisieren die Reeder, was das Zeug hält. Bis 1993, wenn der erste Zug in den Tunnel braust, sollen die Fährpreise gegenüber 1985 auf 40 Prozent gesunken sein.

„P&O“ und „Sealink“ investieren in größere und schnellere Fährschiffe, ausgestattet mit „mehr Komfort“ — worunter die Verantwortlichen neben „French Restaurants“ an Bord unter anderem mehr Spielautomaten schon in den Terminals verstehen.

Die Fährunternehmen setzen darauf, daß für Touristen eine Seefahrt mit abschließendem Blick auf Kreidefelsen attraktiver sein müsse als eine halbstündige Geisterfahrt durch Kreidemergel. Dazu gratis der unvergleichliche Nervenkitzel an Bord einer „Herald of Free Enterprise“ ... Alexander Smoltczyk