: „Der Kanal ist schon schmal genug“
■ Auf der britischen Halbinsel stößt der Tunnel auf Skepsis/ Der Norden wird noch ärmer
Noch vor vier Tagen hat die britische Premierministerin Margaret Thatcher auf dem EG-Gipfel in Rom die Währungsunion als „Wolkenkuckucksheim“ bezeichnet und Europa eine weitere Absage erteilt. Seit gestern kann sie durch ein sechs Zentimeter großes Loch direkt nach Europa gucken. Der Tunnel macht's möglich: Großbritannien ist nur noch eine Halbinsel. Während Thatcher das gigantische Bauprojekt als „Triumph des privaten Unternehmertums“ preist, ist die Bevölkerung eher skeptisch.
Die Bewohner der Hafenstadt Dover halten den Tunnel für die größte Gefahr, seit Hitler 1940 in Calais durch sein Fernglas spähte und die Burg von Dover aus dem 12. Jahrhundert als seine Privatresidenz nach der Invasion Englands auswählte. Dover ist der verkehrsreichste britische Hafen. Im vergangenen Jahr reisten dort über 14 Millionen Passagiere nach Großbritannien ein. In der Hochsaison verkehren hundert Schiffe täglich zwischen Dover und dem europäischen Festland. Die Gewerkschaften schätzen, daß durch den Kanaltunnel die Hälfte aller Jobs, die mit dem Hafen zusammenhängen, vernichtet werden.
Der Tunnel wird die Spaltung des Vereinigten Königreichs verschärfen. Hinter London ist nämlich Schluß mit der Hochgeschwindigkeitsreise. Die Privatisierung der staatlichen Eisenbahnen und deren Aufspaltung in regionale Gesellschaften in den achtziger Jahren hat zu einer weiteren Verschlechterung des Service bei den weniger profitablen Eisenbahnnetzen des Nordens geführt. Die Nordiren gucken 1993 dann vollends in die „Röhre“. In einer Studie der „University of Ulster“ heißt es, daß der Kanaltunnel weit größere Auswirkungen auf die peripheren Regionen Großbritanniens haben wird als die Vollendung des europäischen Binnenmarkts. Die nordirische Landwirtschaft exportiert bis zu 20 Prozent ihrer Produkte nach Südengland. Mit der Fertigstellung des Tunnels werden die Lieferzeiten für Waren aus Brüssel und Paris nach London um fast zwei Drittel verkürzt. Der Transport dauert dann nur gut drei Stunden. Da können weder Nordengland noch Schottland und schon gar nicht Nordirland mithalten.
Noch ist Europa für die BritInnen weit entfernt. „Wir fahren nach Europa“, sagen sie, wenn sie das Festland meinen. Manchen war der Ärmelkanal dennoch zu schmal. So antwortete Lord Palmerston 1867, als ihn der französische Bauingenieur Thomé de Gamond um eine finanzielle Beteiligung am Tunnelprojekt bat: „Was! Sie wollen, daß ich mich an einem Unternehmen beteilige, das eine Entfernung noch weiter verkürzen soll, die für uns ohnehin schon zu kurz ist?“ Fünfzehn Jahre später warnte die 'Sunday Times‘, daß nach dem Bau eines Kanaltunnels „Nihilisten und Internationalisten“ ins Vereinigte Königreich einfallen würden. Die Thatcher-Regierung teilt diese Sorge vollauf. Ihr ist höchst suspekt, was da alles aus dem Tunnel gekrochen kommen könnte. Ein Europa ohne Grenzen kommt deshalb überhaupt nicht in Frage. Abgesehen von Seuchen — Tollwut und Maul- und Klauenseuche sind in Großbritannien so gut wie unbekannt — gilt es vor allem, „Terroristen und Kriminelle“ fernzuhalten. Die Züge zwischen Paris und London erhalten daher ein besonderes Design: abgetrennte Räume in jedem Waggon, in denen Verdächtige verhört und gefangengehalten werden können. Der britische Geheimdienst hat bereits frohlockt, daß die rollenden Verhörzentren die „perfekte Umgebung für die Überwachung potentieller Terroristen“ seien. Ralf Sotschek
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