KOMMENTAR: Trostloses Schauspiel
■ Bonn versucht erneut, den Grenzvertrag mit Polen an den Generalvertrag zu koppeln
Die Verhandlungen der Bundesregierung mit der Republik Polen über den Grenzvertrag wie über den Generalvertrag bieten auf deutscher Seite das gewohnte Bild: kleinliches Finassieren, innenpolitische Rücksichtnahmen, blasierte Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Wirkungen der Außenpolitik.
Der Grenzvertrag ist durch das Zwei-plus-vier- Abkommen vorgezeichnet, es kann sich unsererseits nur um einen schlichten Vollzug internationaler Vereinbarungen handeln. Die Kopplung des Grenzvertrags an den Vertrag, der die polnisch- deutschen Beziehungen umfassend regeln soll, ist völkerrechtlich, vor allem aber politisch unhaltbar. Mag sein, daß Kohl mit dieser Verzögerungstaktik Vertriebenenstimmen für die Union rettet. Eines ist aber gewiß: Jenseits der Oder wird das Mißtrauen wachsen. Die 64 Prozent, die in der jüngsten Meinungsumfrage in Polen gegenüber dem vereinten Deutschland Reserven und Angst bekundeten, müßten bei jedem deutschen Politiker Bestürzung auslösen. Aber wer glaubt in Bonn schon an die Redensarten von der polnisch-deutschen Aussöhnung.
Auch gegenüber der deutschen Minderheit in Polen hat die Politik der Bundesregierung gravierende Folgen. Die Bundesrepublik wirft sich zur Garantiemacht ihrer Forderungen auf. Die Polen deutscher Herkunft in Schlesien, dem Ermland oder Masuren werden auf Deutschland als ihr „eigentliches“ Heimatland fixiert. Statt als polnische Bürger selbstbewußt Minderheitenrechte einzuklagen, statt diese Auseinandersetzungen als Bestandteil des Demokratisierungsprozesses zu begreifen, werden sie sich von der polnischen Gesellschaft abwenden. Man sollte nicht verschweigen, daß auch die polnischen Demokraten — etwa durch ihre Weigerung, einen Vertreter der deutschen Minderheit als gemeinsamen Kandidaten für die Senatswahlen zu nominieren — zur Selbstisolation dieser Minderheit beigetragen haben. Jetzt aber drohen diese Tendenzen übermächtig zu werden. Den Blick starr auf die Bundesrepublik geheftet, werden viele Polen deutscher Herkunft endgültig in den Ressentiments versteinern, in die sie durch eine oft demütigende Behandlung nach 1945 getrieben worden sind. Sie werden sich ausschließlich Hilfe vom „Altreich“ erwarten.
Die Pointe bei diesem ganzen trostlosen Schauspiel besteht darin, daß kaum irgendwo die Chancen für gelebte „Multikulturalität“ besser wären als zwischen den Deutsch-Polen und ihren polnischen Mitbürgern. Mischehen und Zweisprachigkeit sind bei der deutschen Minderheit die Regel. Auf dem Vertriebenentreff der Oppelner Schlesier hört man — horribile dictu — polnisch-deutsches Sprachengewirr, und manch einer verflucht in gebrochenem Deutsch seine ursprüngliche Heimat. Nach dem Türkischen ist das Polnische die zweitgrößte Minderheitensprache auf deutschem Boden. Welch ein Potential der Verständigung zwischen den beiden Nationen, und wie schmählich wird es vertan! Christian Semler
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