Japan will nicht Weltpolizist sein

Von der konservativen Regierung Kaifu eingebrachte Gesetzesvorlage über Truppenentsendung in den Golf so gut wie gescheitert  ■ Aus Tokio Georg Blume

Selten waren sich Japan und Deutschland in einer weitreichenden weltpolitischen Entscheidung so nahe wie heute. Doch Tokio hat nun allem Anschein nach vor Bonn entschieden: Man wird auf lange Zeit keine Truppen ins Ausland beordern — weder in den Golf, noch in eine andere Krisenregion. Falls die Regierung von Premierminister Toshiki Kaifu nicht Kopf und Kragen riskiert und zu einer für Japan unüblichen Kampfabstimmung ins Parlament schreitet, ist damit der erste namhafte Versuch in der Nachkriegszeit gescheitert, Japan das Recht zum militärischen Einsatz auf fremdem Gebiet zu verschaffen.

Vor erst drei Wochen hatte die Regierung in Tokio einen Gesetzentwurf verabschiedet, der den Einsatz von leicht bewaffneten Soldaten der japanischen „Selbstverteidigungsarmee“ beim Truppenaufbau in Nahost und anderen, von der UNO unterstützten Aktionen vorsah. Nun aber hat der Fraktionsführer der regierenden Liberaldemokraten in Tokio, Shin Kanemaru, dem Gesetz den wahrscheinlich entscheidenden Todesstoß versetzt: „Die Regierung sollte eine Politik im Rahmen ihrer ausschließlichen Verteidigungsaufgaben entwerfen. Sie sollte dabei Mittel und Wege in Betracht ziehen, die es Japan auch ohne das vorgeschlagene Gesetz erlauben, seiner internationalen Verantwortung gerecht zu werden.“ Nachdem Kanemarus Urteil gestern in Tokio bekannt gegeben wurde, gilt das Gesetzesvorhaben der Regierung als aussichtslos. Dem als „Königsmacher“ geltenden Kanemaru schreiben sämtliche politischen Beobachter Nippons derzeit das letzte Wort in der Regierung zu.

Shin Kanemaru, der Mann hinter den Kulissen, hat damit politischen Instinkt bewiesen. Erregt wie kaum zuvor hatte das Inselreich während der vergangenen Wochen die so selten gestellte Identitätsfrage diskutiert: Ist Nippon Militärmacht? Soll es das sein? Die Antwort aus der Bevölkerung kam schneller und klarer als erwartet. Die Regierenden mochten ihren Ohren nicht trauen. Doch die Orte des Protests waren der Welt vertraut. „Wir Mütter wollen niemals mehr unsere Söhne in den Krieg schicken!“ skandierte etwa eine vor wenigen Tagen in Nagasaki versammelte Hausfrauengruppe.

„Die Mehrheit ist gegen die Truppenentsendung“, versicherte Professor Shigetoshi Iwamatsu in Nagasaki, noch bevor eine Umfrage der führenden Wirtschaftzeitung 'Nihon Keizai‘ ermittelte, daß sich sogar drei Viertel aller JapanerInnen gegen den Gesetzentwurf der Regierung aussprechen. Professor Iwamatsu, selbst Opfer der Atombombe von Nagasaki und einer der prominentesten Kritiker der japanischen Verteidigungspolitik, erläutert das Unbehagen seiner Mitbürger: „Wir wollen doch heute alle in Frieden und Wohlstand leben, ohne dabei in einen Krieg verwickelt zu werden. Und was wissen wir Japaner schon über Nahost. Schließlich ist die Regierung auch Opfer ihres eigenen Wortspiels. Sie erfand unsere sogenannte ,Selbstverteidigungsarmee‘. Und obwohl die inzwischen zu den stärksten der Welt zählt, nehmen die Japaner das bisher nicht zur Kenntnis. Wir wissen nichts von unserer Militärmacht und fühlten uns deshalb durch das Gesetz überrumpelt.“

Jetzt rächt sich, daß die Regierung in Tokio jahrelang tiefstapelte. Unter dem Schutz der mit dem US-japanischen Sicherheitsbündnis von 1960 verfügten pax americana rüstete Japan zwar eine Armee hoch, die heute über den drittgrößten Militärhaushalt der Welt verfügt. Doch vermieden die Verantwortlichen tunlichst jede Debatte über die zukünftige Rolle dieser Luxusarmee — sowohl mit dem eigenen Volk wie mit den Nachbarländern. Diese Undurchsichtigkeit schürte über lange Zeit Mißtrauen, nicht nur in China und Korea, die sofort gegen das neue japanische Militärvorhaben Protest einlegten, sondern sogar in der eigenen Truppe. Erstaunlich mutete da an, wie offenherzig und selbstkritisch sich Soldaten der „Selbstverteidigungsarmee“ in den letzten Tagen in der Öffentlichkeit zu Wort meldeten. Fast alle sagten das gleiche: „Vom Einsatz im Ausland war bisher nicht die Rede. Unser Auftrag liegt in der Verteidigung Japans.“

Das ließen sich Nippons Pazifisten natürlich nicht zweimal sagen. Nach den jüngsten Großdemonstrationen in Tokio und Osaka mit mehreren zehntausend TeilnehmerInnen ist nun allen Beteiligten klar: Japan führt die wichtigste sicherheitspolitische Debatte seit mehr als zwanzig Jahren. Auf dem Spiel steht die weltpolitische Rolle der Wirtschaftmacht.

Premierminister Toshiki Kaifu, einmal in die Enge getrieben, verteidigte sich durchaus bravourös: „,Nieder mit dem Sicherheitspakt! Nieder mit dem Krieg!‘ Das haben die Sozialisten schon 1960 geschrien. Aber wie sieht die Wirklichkeit denn aus? Seit 45 Jahren genießen wir Frieden und Wirtschaftswachstum.“ Ob nun auf Geheiß von George Bush oder aus eigenem Antrieb — der redegewandte Regierungschef forderte die Diskussion über Japans so oft künstlich beschworene „internationale Verantwortung“ heraus. Kaifu im Parlament: „Wir dürfen nicht vergessen, daß unser Land wie kein zweites vom Frieden profitiert.“

Vielleicht ist es denn auch auf mehr als puren Opportunismus zurückzuführen, daß die Regierungspartei (LDP) unter Shin Kanemaru jetzt die Wende einleitet. Bereits zum Beginn der Parlamentsdebatte hatten Kanemaru und eine Reihe älterer LDP-Mitglieder Bedenken geäußert. „Auf die Tabufrage, ob wir Blut für die Freiheit vergießen wollen, hat Japan, anders als der Westen, nach dem Krieg keine Antwort gefunden“, bemerkte der ehemalige Vizeregierungschef Kichi Miyazawa. Da fühlte sich Takako Doi, die populäre Führerin der sozialistischen Partei, schon als Siegerin: „Die Entsendung von Truppen wäre ein Bruch mit der japanischen Friedensverfassung und würde eine Verfassungskrise zur Folge haben.“

Eine solche Krise wird ausbleiben. Die reichste Industrienation der Welt akzeptiert immer noch den ihr zugewiesenen halbmilitärischen Status. Sie will nicht Weltpolizist sein. Viele Deutsche mögen da nicht mehr mithalten. Japan aber hat sich auf seine Geschichte besonnen.