: „Psychisch Kranke sind nicht gefährlicher als normale Bürger“
■ Sabine Nowara, Psychologin am Westfälischen Zentrum für forensische Psychiatrie in Lippstadt, über frauenspezifische Therapieansätze für psychisch kranke Straftäterinnen INTERVIEW
taz: In der stationären Psychiatrie befinden sich etwa genauso viel Frauen wie Männer. In der forensischen, der gerichtlichen Psychiatrie machen Frauen nur 5 Prozent aus. Woher rührt dieser Unterschied?
Sabine Nowara: Er rührt daher, daß psychisch Kranke nicht häufiger und nicht seltener straffällig werden als die normale Bevölkerung. Der Anteil der Frauen in der Forensik entspricht ihrem Anteil im allgemeinen Strafvollzug.
Warum kommen Frauen in die Forensik?
Tötungsdelikte und versuchte Tötungen machen einen großen Teil aus — Tötung entweder des Beziehungspartners oder der Kinder, zum Beispiel bei einem erweiterten Suizid. Es folgt Brandstiftung und in selteneren Fällen Eigentumsdelikte.
Das heißt Gewalttaten gegen Personen des öffentlichen Lebens, wie Adelheid Streidel eine begangen hat, kommen bei Frauen so gut wie überhaupt nicht vor?
Sie kommen überhaupt ganz selten vor — bei Frauen wie bei Männern. Und soweit ich das verfolgt habe, ist Adelheid Streidel die erste Frau.
Frau Streidel muß mit einem langen Aufenthalt in der Psychiatrie rechnen. Was für Therapiemöglichkeiten gibt es für sie?
In der Psychiatrie gibt es heute ein breites Spektrum von Behandlungsmöglichkeiten. Es reicht von den verschiedensten Formen psychotherapeutischer Behandlungen bis zu einer medikamentösen Therapie.
Die medikamentöse Behandlung steht bei der Diagnose „paranoide Schizophrenie“ sicher im Vordergrund.
Je nachdem, wie akut die Wahnproblematik ist, ist es üblich, auch medikamentös zu behandeln. Die Medikamente sollen die Ängste, die Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, die ein derartig erkrankter Mensch hat, lindern oder wegnehmen. Danach ist es eine Frage der übrigen Persönlichkeit, in wieweit sozio- oder milieutherapeutische oder sonstige psychotherapeutische Techniken angewandt werden. Man wird sich heute aber nicht mehr allein auf eine medikamentöse Therapie beschränken.
Sie haben 1984 die erste forensische Frauenstation in der Bundesrepublik mit aufgebaut. Warum wurde sie eingerichtet? Die gemischten Stationen gelten doch inzwischen als Fortschritt.
Unser Fachkrankenhaus behandelt ausschließlich psychisch kranke Straftäter und Straftäterinnen. Bei der Gründung, 1984, hatten wir so viele Frauen da, daß wir gesagt haben, sie sollen auch eine spezielle Behandlung bekommen.
Gibt es bei Ihnen Ansätze für eine frauenspezifische Therapie?
So würde ich das nicht nennen. Unsere Patientinnen kommen vorwiegend aus der Unterschicht und sind für die Frauenproblematik sehr schwer zu sensibilisieren.
Diese Frauenstation ist auch deswegen entstanden, weil gemischte Stationen ganz neu und sehr angstbesetzt waren. Denn die Delikte der Männer in der Forensik umfassen natürlich die ganze Bandbreite an Delinquenz, es sind also auch Gewalt- und Sexualstraftäter darunter. Die Ängste waren also groß, wenn auch teilweise irrational, daher war eine der ersten Überlegungen, die Frauen für sich unterzubringen.
Spezielle Behandlung heißt also in erster Linie, daß Frauen für sich auf Station sind. Oder gibt es da noch mehr an Ansätzen?
Sicherlich ist auch der gesellschaftliche Kontext mit zu berücksichtigen; unter welchen Umständen Frauen ihre Delikte begangen haben.
Was heißt das konkret auf die Therapie bezogen?
Daß spezifische Einflüsse, die auf Frauen wirken durch ihre Erziehung und ihre Rolle berücksichtigt werden.
Wie unterscheidet sich also das Therapiekonzept in der Frauenstation von dem in gemischten Stationen?
Die Konzepte unterscheiden sich in der Behandlung des Einzelfalls nicht so sehr. Unterschiedlich ist sicher das allgemeine Stationsklima.
Wenn man genügend Frauen zusammen hat, kann man aber in gruppentherapeutischen Gesprächen besser auf ihre Bedürfnisse eingehen. Früher war es häufig so, daß eine Frau oder zwei Frauen auf einer großen forensischen Männerstation untergebracht waren oder irgendwo in einem allgemeinen Landeskrankenhaus, zusammen mit „normalen“ psychisch Kranken, also solchen, die nicht straffällig geworden sind. Da hatte man eben nicht die Möglichkeit auf ihre besondere Situation einzugehen.
Wie bewerten Sie den Versuch mit der forensischen Frauenstation?
Der Nachteil ist, daß sie ein Stück weit von unserer üblichen Realität entfernt ist, wo nun mal Männer und Frauen miteinander leben und auskommen müssen. Auf der anderen Seite sind die Gründe sehr vielfältig, warum Frauen zum Beispiel ihren Partner getötet oder den Versuch gemacht haben. Da ist es teilweise notwendig, daß die Frauen einen gewissen Schutzraum haben. Und der ist in einer Frauengruppe natürlich größer als in einer gemischten Gruppe.
Nach den Attentaten auf Lafontaine und Schäuble mehren sich wieder Stimmen, die mehr Schutz der Gesellschaft vor psychisch Kranken fordern. Gibt es diesen Schutz überhaupt?
Wie gesagt: Psychisch Kranke sind nicht gefährlicher als der normale Bürger. Die Psychiatrie ist sicher nicht dazu da, Leute prophylaktisch wegzuschließen, sondern psychisch Kranke, die für sich und die anderen gefährlich sind, so zu behandeln, daß sie keine Gefährdung mehr darstellen. Interview: Ulrike Helwerth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen