„Man fühlt sich so ohnmächtig“

■ Saliha Scheinhardt, einst „Gastarbeiterin“ aus der Türkei, heute Verfasserin von Erzählungen über die Situation von Arbeitsimmigrantinnen, zur BVG-Entscheidung INTERVIEW

taz: Frau Scheinhardt, das kommunale Wahlrecht hätte der ausländischen Minderheit in der Bundesrepublik nur ein lächerlich geringes politisches Mitspracherecht gesichert. Hätte dieses Wahlrecht denn überhaupt noch eine praktische Bedeutung gehabt?

Scheinhardt: Wir sind davon ausgegangen, daß die Auswirkungen eines Ausländerwahlrechts nicht so minimal sind. Es gibt in der Bundesrepublik Gebiete, wo bis zu 75 Prozent ausländische Familien wohnen, leben und arbeiten. Und in diesen Gebieten wird alles Kommunale, was uns ganz direkt angeht, über unsere Köpfe hinweg von anderen entschieden. Das sind ganz alltägliche, elementare Dinge wie z. B. Kindergärten oder der soziale Wohnungsbau. Wenn wir Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten, würden diese Regionen ganz anders aussehen. Ich denke, es hat einen Sinn gehabt, daß wir uns seit mehr als zehn Jahren dafür eingesetzt haben. Das Kommunale Wahlrecht wäre unsere einzige Stimme gewesen — wenn Sie sich nur überlegen, daß wir bis heute politisch einfach nicht existent sind. Natürlich könnten wir in die Parteien gehen, aber was haben wir dort für eine Funktion, wenn wir nicht wählen und nicht gewählt werden dürfen. Auf der einen Seite setzen sich die Deutschen dafür ein, daß es irgendwann einen gemeinsamen Markt gibt in Europa, auf der anderen Seite diskriminiert man die Nationen, die nicht in der EG sind. Wir sind 20 Millionen Menschen, die in Europa als Arbeitsmigranten leben, davon 4,5 Millionen allein in der Bundesrepublik. Das kommunale Wahlrecht wäre ein Zeichen gewesen, daß wir als Menschen, als Bürger existieren, und nicht nur diejenigen sind, die Steuern zahlen und den Mund halten. Es wäre auch eine Stimme gegen dieses doppelzüngige Europa gewesen, wo vom europäischen Haus geredet wird, aber gleichzeitig die Menschen aus Nicht-EG-Staaten nur als Arbeitskräfte gelten.

Was glauben Sie, wie die Entscheidung in der ausländischen Bevölkerung aufgenommen wird?

Ich vermute, daß in der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung und ihrer Familien aufgrund mangelnder Bildung und geringen politischen Interesses die Ablehnung des Wahlrechts durch das Bundesverfassungsgericht nicht als totaler Zusammenbruch empfunden wird. Aber es gibt eine große Gruppe von engagierten Leuten, und die werden tief enttäuscht sein. Man weiß einfach nicht mehr, was man noch machen soll. Man fühlt sich so ohnmächtig.

Ohnmächtiger als vorher?

Sehen Sie, die Entscheidung gegen das Ausländerwahlrecht fällt ja in einer ganz besonderen politischen Situation. Es ist für uns Ausländer ungeheuer schwer, mit der deutschen Vereinigung zu leben. Ich glaube, nur wenige können sich vorstellen, wie es uns bei den ganzen deutsch-deutschen Feierlichkeiten ging. Am Abend des 2. Oktober hatte ich eine Lesung, und ich saß da und brach einfach in Schluchzen aus. Ich konnte zunächst nicht lesen. Nachts im Hotel hörte ich unten die Leute feiern. Ich lag im Bett und hielt mir die Ohren. Wir wissen inzwischen, daß die Ausländerfeindlichkeit im Osten Deutschlands noch viel größer ist als hier in der Bundesrepublik. Und auch hier spüren wir einen aufkommenden Nationalismus. Mich hat deshalb der Satz von Willy Brandt sehr erschrocken, daß jetzt zusammenwächst, was zusammengehört. Da wurde mir plötzlich ganz klar: Wir gehören nicht dazu. Er meinte nicht die ausländischen Kinder und Jugendlichen, die im Kindergarten Bauch an Bauch mit ihren deutschen Freundinnen und Freunden Mittagsschlaf gehalten haben oder gemeinsam ausgewachsen sind. Er meinte nur die Deutschen. Und wenn schon ein Mann wie Brandt so etwas sagt, was geht dann in anderen, weniger aufgeklärten Köpfen vor? Ich sehe auch die Gefahr, daß ausländische Jugendliche der zweiten Generation nun ihrerseits auf den deutschen Nationalismus mit Nationalismus reagieren werden, nur daß sie eigentlich gar keiner Nation mehr richtig angehören. Sie sind hier aufgewachsen, mit den Fabriken hier, den Schornsteinen, den Schulen. Ihre Heimat ist nicht mehr die Türkei. Und in dieser Situation hält man ihnen jetzt ganz klar vor: Ihr gehört nicht dazu. Ihr seid auf Zeit hier und werdet allmählich rausgedrängt. Daß nun auch das Bundesverfassungsgericht das noch einmal deutlich macht, nimmt uns förmlich den Atem.

Aber ich denke, daß die Vereinigung und die Entscheidung der Verfassungsrichter ja nicht nur für uns schlimm sind, sondern auch für die Deutschen und ihre demokratische Entwicklung. In der DDR gab es immerhin ein Ausländerwahlrecht. Aber genau so wie beim Paragraphen 218 wollte man die guten Dinge, die es in der DDR gegeben hat, nicht übernehmen. Und darunter leiden auch die Deutschen, die sich für mehr Demokratie einsetzen. Interview: Vera Gaserow