BIG,NOCHBIGGER,GANZTOLLAMBIGSTEN:JEDEMENGEBIGBANDS  ■  Jazz Fest Berlin 1990: Die großen und die sehr großen Formate

Eine Big Band, das sind nicht nur ca. viermal soviel Leute wie in einem Standard- Quartett, es sind auch viermal soviel Probleme. Mindestens. Mal ganz abgesehen von solchen Dingen wie Finanzierung, Logistik, Proben- und Terminplanung. Wie denn überhaupt gespielt werden soll, ist die Grundsatzfrage. Alle auf einmal? Einer nach dem anderen? Zwischen diesen Polen sind die Strategien, die zum musikalischen Ziel führen sollen, angesiedelt. Was beim Vierer ohne Steuermann unproblematisch erscheint, bestimmt bei der Big Band die musikalischen Ereignisse. Neun Big Bands spielen zum Berliner Jazz Fest '90 auf, das bietet Gelegenheit genug, die verschiedenen Konzepte zu vergleichen.

Da gibt es zunächst das All-Star-Prinzip. Nicht selten handelt es sich um Altherrenmannschaften, deren Mitglieder sich bereits in vielen Bands und auf vielen Bühnen bewährt haben und bei denen alles klappt, weil alles schon tausendmal geklappt hat. Nicht selten haben die Stücke folgende Form: Intro — Thema (möglichst originelles Arrangement) — Solo 1 — Zwischenspiel — Solo 2-15 — fetziges Finale. Einer schreibt die Sätze, alle sind solotauglich, dreimal proben, Tournee und fertig ist die Laube. The Dizzy Gillespie United Nation All- Star Orchestra (bei einer echten Big Band ist auch der Name big) tritt in dieser Gattung an, ebenso die McCoy Tyner Big Band. Wieso McCoy Tyner eine Big Band gründete, bleibt ein Rätsel, eigentlich ist er sich selbst Orchester genug. Oder andersherum: wenn seine Arrangements ebenso üppig ausfallen wie sein Klavierspiel, werden sich die Tonwolken so schnell nicht lichten.

Andere Big Bands spielen als feste Formation über lange Zeiträume zusammen, die Members haben sich eingegroovt, verstehen sich blind. Da sind gelegentlich theatralische Einlagen im Spiel, unverhofft brechen Pointen hervor, der musikalische Ablauf ist verwoben, die Übergänge ziseliert gestaltet.

Etwas anders liegt der Fall, wenn im Namen das Wort »Orchestra« auftaucht. Dann handelt es sich zwar immer noch um die gleiche Besetzung wie bei einer Big Band — überhaupt, die Besetzung scheint genormt zu sein: immer möglichst viel Blech (mindestens 40%), möglichts viel Saxophon (30%) und Rhythmusgruppenausstattung (25%), sonstige Instrumente (5%). Eine Ausnahme ist das L'Orchestre National de Jazz, das mit zwei Bässen, drei Gitarren, zwei Schlagwerkern, Piano und Akkordeon das übliche Verhältnis glatt umkehrt. Aber die »Leader« sind zu »Komponisten« avanciert, die »Musiker« sind »Interpreten« und spielen nicht länger »Arrangements«, sondern »Kompositionen«.

Komposition kann viel heißen, das reicht von der 4x4 Meter-Partitur, in der jedes Stirnrunzeln zwingend vorgeschrieben ist, bis hin zu Blättern, die gemeinhin als Graphik bezeichnet werden würden. Daniel Schnyder hat seine Studien im Amiland absolviert, versteht sich emphatisch als Komponist (richtige Symphonien, Streichquartette etc.), der das Jazzkonzept mit klassischen Elementen verbinden will. Ein Verfahren, das gerne als Third Stream bezeichnet wird. Die Suite »The City« »is painting a sound picture of Manhattan: iron, glass, concrete, speed machines, men and some flying elephants«. Ob das nun eine Glorifizierung in der Broadwaystilnachfolge wird oder aber vielleicht ganz das Gegenteil, bleibt abzuwarten.

Das Berlin Contemporary Jazz Orchestra wird von Alex von Schlippenbach dirigiert, der damit auf eigene Pianoagitationen verzichtet. Selbst hat er beim Chefavantgardisten Bernd Alois Zimmermann studiert und es scheint, als würde er sich vermehrt den kompositorischen Tätigkeiten hingezogen fühlen. Das Orchester ist herrlich bunt gemischt. Allein die Rhythmsection: Powerfrau Aki Takase — die noch bei den gewalttätigsten Exaltationen soviel Anmut und Grazie ausstrahlt, daß man darüber ganz das Mitleid mit dem Piano vergißt — neben Ed Tigpen, der einst im Oscar Peterson Trio durch Einfallslosigkeit zu langweilen wußte. Nehmen wir zu seinen Gunsten an, daß es sich dabei um entfremdete Brotarbeit handelte, die ja zu jedem Musikerschicksal gehört.

Nicht das Gedichtprinzip (wie bei den All- Stars, wo Refrain-Strophe-Refrain im Tutti- Solo-Tutti seine Entsprechung findet), nicht die Shortstory (mit den Episoden aus dem Musikerleben), das Epos stand Pate bei der »Hommage A Douglas Adams« (dessen »Per Anhalter durch die Galaxis« als das Epos unseres absurden Zeitalters zu bezeichnen, dürfte wohl kaum Widerspruch aufkommen lassen) vom Klaus König Orchestra. In sieben Szenen werden zentrale Charaktere und Situationen dargestellt. Kleine Hausaufgabe für Imaginationswillige: Wie wird wohl die umwerfende Antwort des Hypercomputers Deep Thought auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, des Universums und des ganzen Rests (richtig »42«, was sonst?) in Klanggeschehen übersetzt werden? Auf die endgültige Antwort des Orchesters jedenfalls darf man gespannt sein, einige der illustren Mitglieder (u.a. M.Schubert, K.Wheeler, K.Bauer, D.Manderscheid) sind ob ihrer Schlagfertigkeit geradezu berüchtigt.

Schließlich sei noch kurz das Jederdarfbestimmen-Verfahren angesprochen. Im Kollektiv improvisiert, hängen die Resultate ganz entschieden von den Einstellungen der Einzelnen ab, von ihrer Toleranz, der sozialen Intelligenz und der spontanen Interaktion. Und vom musikalischen Können natürlich, über das man sich beim Jazzorchester der DDR (die heißen immer noch so. Trotz?) unter der Leitung von Günter »Baby« Sommer aber keine Sorgen zu machen braucht. Zum Konzept gehört diesmal eine Schalmeienparade der dritten Art. Überraschung. Frank Hilberg

Das gesamte Programm des Jazz Festes findet sich an den jeweiligen Tagen in den Musik-Rubriken!

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Frank Hilberg