Die Kalkgemeinde am Wüstenrand

■ »Die Geschichte von Rüdersdorf« in der Werkbund-Galerie

Eine weiße Staubschicht liegt über der Landschaft. In ihrer Mitte hat sich ein Loch, weit über fünfzig Meter tief, terrassenartig in die Erde gefressen. Immer mehr. Immer weiter. Von ganz unten sieht man die Welt nicht mehr, nur eine Steinwüste ist übriggeblieben. Gierige Bagger fressen Kalkschicht nach Kalkschicht bis zur Sohle. Auf Bändern rollen die Brocken ins Werk, verbrennen dort zu weißem Pulver oder werden zu Zement gemischt. Die Erde bebt, wenn Sprengungen ganze Bruchsteinladungen aus dem Boden hauen.

Am Wüstenrand liegt Rüdersdorf, die Kalkgemeinde; 25 Kilometer östlich von Berlin-Mitte. Die kleine Stadt lebt seit 700 Jahren vom Tagebau, der sie selbst schon einmal gefressen hat. Erst wurde die Erde nahe der Peripherie aufgerissen. Später verschlangen die Maschinen auf der Suche nach Kalk die Hauptstraße mit den Häusern. Die Gemeinde mußte auf die Hügel ausweichen. Bis heute. Gleichzeitig war das märkische Fleckchen für die Berliner immer schon ein Ausflugsziel gewesen, konnte man doch direkt von der Spree über Kanäle und blaue Kalkseen die nahe Sommerfrische erreichen. Rüdersdorf, so verzeichnet die Liste des Heimatmuseums, hatte in den zwanziger Jahren die meisten Bierquellen der Umgebung: An Albert Rengels Theke gab es »alle Sorten«. Das »Schützenhaus« warb mit dem Prädikat »Beliebtester Ausflugsort«.

Dem kleinen Ort hat die Werkbund-Galerie eine wichtige Ausstellung gewidmet, stehen doch die alten Industriebauten und Kalköfen, die unterirdischen Kanäle mit ihren klassizistischen Portalen aus dem 19. Jahrhundert vor dem Zerfall und gerieten darum in völlige Vergessenheit. Berliner Baugeschichte und Industriekultur kämen unter die Räder und mit ihr eine Denkmallandschaft, die über zwei Jahrhunderte die Stadtentwicklungsgeschichte mitgeprägt hat.

Auf den Zeichnungen und Fotos aus den Archiven der Rüdersdorfer Zementwerke sowie dem Heimatmuseum erlebt man die Geschichte als Verschüttung: Zwischen 1804 und 1816 waren zur Verbindung der Steinbrüche und zum schnelleren Transport des Kalks unterirdische Kanäle, der Heinitz-, Bülow- und Redenkanal, angelegt worden. Nach Plänen von Friedrich Schinkel und Gottlieb Schläzer entstanden an den Zufahrten monumentale Portale in Anlehnung an Gestaltungen der französischen Revolutionsarchitektur. Mächtige Pylonen, so sieht man, stemmten sich damals gegen den Berg. Steinerne Bögen über dem Wasser zogen mit Tiefenwirkung, als ginge es direkt hinab zu den Müttern. Die architektonischen Assoziationen zum Bergbau wie zur Unterwelt zeigt die Dokumentation auch in den Zeichnungen der ab 1830 gebauten Rumdfordschen Kalköfen, die mit Kohle anstatt Holz den Kalk brannten. Heute sind die vorindustriellen Bauwerke verschüttet oder zerstört. Die Kanäle sind — bis auf den Bülowkanal — verschwunden, die Portale hat das Erdreich verschluckt. Hier und da gucken noch Mauerreste aus dem Boden — Schlußsteine, Gesimse, Ornamente —, die Sehnsucht nach dem Alten stimulieren. Die »Schachtofenbatterie«, ein Schornsteinwald aus der Gründerzeit, sowie die ehemalige Bergwerksstraße sind Ruinenlandschaften. Nur die Remise mit einem Uhrenturm hat sich gehalten. Andere Chiffren für Zeit und Arbeit sind hinter dichten Hecken verschwunden, die das Mauerwerk bereits aufzulösen drohen.

Zugleich erscheinen auf den bräunlichen Fotos die frühen Förder- konstruktionen und Eisenkarren, die himmelhohen Schornsteine der Zementwerke und die Skelette der modernen Architekturruinen wie konstruktivistische Kompositionen, denen nichts Romantisches und Fortschrittseuphorisches mehr anhaftet. Man riecht eher stinkendes Maschinenöl. Auch die Landschaft ist durch geometrische Linien zerteilt. Die geologischen Karten gleichen kalligraphischen Kunstwerken ohne Erlebnis. Dreck und Staub haben sich über das Kalkwerk wie über die Stadt Rüdersdorf gelegt. Sichtbar nagt der rostige Tod an der Bergwerkstechnik wie an den Häusern, so daß selbst die Arbeiter, die mit Hacken und Spaten abgebildet sind, wie grabschaufelnde Lemuren wirken.

Heute hat Rüdersdorf eine Staublunge. Zwar sind zwei der vier Zementwerke stillgelegt, doch erreicht die Emission das Sechsfache der Überschreitungsgrenze. Die Stadt ist grau geworden, und die bewaldeten Berge und klaren Seen sind im Industrieschmutz fast erstickt. Bagger, Schienen, Förderbrücken und Fabrikanlagen, die sich im Erdloch wacker halten, sind hoffnungslos veraltet. Erneut bedroht die westliche Abbaustelle den Rüdersdorfer Ortskern und hebt an, die eigene industrielle Geschichte ganz zu zerstören. Die Ausstellung, ein Industriemuseum, eine verträgliche Nutzung und vor allem eine öffentliche Diskussion über Werk und Stadt könnten das verhindern. rola

Die Ausstellung Die Geschichte von Rüdersdorf ist noch bis Mitte November in der Werkbund-Galerie, Goethestraße 13, Berlin 12 zu sehen: Mo. bis Fr. von 16 bis 18 Uhr 30 Uhr; danach im »Stadttor« am U-Bahnhof Schlesisches Tor.