Zwischen Wotan und Wohltat

■ Depeche Mode in der Deutschlandhalle

Es hätte schlimmer kommen können. In Interviews hatten Depeche Mode bereits angedroht, für ein mittlerweile gereiftes Publikum zu spielen. Sollte ein Teenie-Traum nach zehn Jahren und zwei Dutzend Herzensbrecherrhythmen ausgeträumt sein?

Nein, denn zumindest die Musiker wollten auf der Bühne noch einmal beweisen, wie das Leben unter der Dunstglocke jugendlicher Einfalt zu zarter Größe erwachsen war. Wie sie mit Jingle-jangle-Pop den Sinn des Lebens gefunden haben. Wie aus Punkrockern Kirchgänger wurden. Das Konzert, das in der Deutschlandhalle toste und brandete, hätte allen erdenklichen Gottes- und Götzendiensten gleichen können, die Show war perfekt inszeniert. Mit Bühnenaufbauten, die an Kirchenportale erinnerten, und einer Light-Show, die das Jüngste Gericht, Apokalypse und Genesis gemeinsam in einer Glühbirnenorgie reproduzierten, war der Abend nicht bloß Rock'n'Roll-Standard. Depeche Mode ging es von jeher um eine düstere musikalische Exegese, um die Schattenseiten des Christentums. In zig Varianten flimmerten Erweckungsphantasien über Großleinwände. Pathetisch von pränataler Urunschuld bis zu slapstickhaftem Alle-Engel-fliegen- hoch-Bilderkitsch (»clean«).

Gerade die Brechung und Übersteigerung religiöser Motive war schon immer die zentrale Schnittstelle in den Texten von Depeche Mode gewesen: »I'm a missionary/ This is religion/ I'm firm believer/ And a warm reciever«, heißt es in dem Song Scared, und ihre verbalerotischen Anzüglichkeiten stellen sie so in den Dienst der Kirche, daß es unter der Kanzel stinken muß. An Teenies, die im Engelschor »shake the disease« singen, hätte Bataille seine Freude gehabt. Da ist der blonde Bandleader Martin Gore bei vergangenen Shows mit Strapsen, Bondages und Handschellen auf die Bühne gekommen, um dann in Kirchentonarten liturgische Obszönitäten anzustimmen. Herzzerreißend, »pain — will you return it«.

Doch diese Übereinkunft funktionierte nicht mehr: Das Publikum vorgestern gab diese Qualen zum Einverständnis mit der Band nicht wieder an die Bühne zurück, bestätigte das Verbotene nicht. Denn in jedem Seufzen, in jeder Hysterie der Massen hätte dann ein Einverständnis mit dem zweideutigen Ketzertum der Band gelegen. Die Musiker hatten von jeher unter dem Verbotenen gezittert, das sie in Videobildern und Textzeilen wie: »God has a sick sense of humor«, traurigen Jugendherzen eingeschrieben haben. Noch immer wimmelt die Stadt von Grufties und Schwarzfüßen, noch liegt in der Todessehnsucht von Teenagern mehr als nur die satte Melancholie der Erwachsenen- und Arbeitswelt. Todsein ist dabei noch sexy, besonders wenn man sich vorstellt, zuzuschauen, wie es ist, beerdigt zu werden. Man bringt mit seinem Opfer Leben und Tod in Übereinstimmung, geht an der Grenze von Erotik und Tod doppelte Lust genießen. Eine Öffnung ins Unbegrenzte.

Doch die Massen taumelten statt dessen stumpf zur elektrischen Marschrhythmik, die eher den teutonischen Geist nietzscheanischen Ohrenschlagens erweckte. Nicht einmal »headbanging«. Ein widerliches Wir-sind-wieder-wer-Gefühl rumorte in der Menge, entlud sich bereits in der Beschimpfung der hervorragenden Vorgruppe Electribe 101 und blieb später den Blasphemien der Depeche Mode gegenüber völlig verschlossen. Da kam es fast einer Niederlage gleich, daß diese ihr völkerverbindendes People Are People vor den deutschen Massen nicht spielten. So sah man Deutschlandfahnen und die bunten Wimpel der ehemaligen und neuen Gaue der Band einen blinden Gruß entbieten. Die auf der Bühne agierenden Musiker waren sichtlich geschockt, zumal ihnen der dumpfdeutsche Patriotismus in anderen Städten nicht begegnet war. Berlin wollte wieder einmal besser sein.

Mehrere tausend Arme wogten mit Rundumkreisen wie ein überdimensionaler Mercedes-Scheibenwischer, dankbar für den Sturm, den die Masse selbst entfacht hatte. Fast ging die Band im Wotantaumel unter. »We love you, Berlin«, klang im Gegröhle der Massen wie eine Parodie. Nur wenig fehlte, und der Faden wäre der zartfühlenden Teenie- Tanz-Band gerissen. Queengleich hätte dann We Are The Champions folgen können: »No time for loosers, cause we are the champions of the world.« Doch dann wurde selbst das deutsche Publikum vom sinistren Band-Image verführt. Zu Personal Jesus ließen sie endlos die Zeile: »Reach out und touch faith«, vom Hallenchor wiederholen. Plötzlich fand sich der Glaube wie ein Wunder in den feuerzeug- und wunderkerzenleuchtenden Augen der 7.000 wieder. Entrückt verlangten die Zuschauer über Minuten nach einer Zugabe. Im Lichtdom intonierte Dave Gahan, der Sänger, die alte Weise Blake Celebration. Zynisch gab er ein Question Of Time hintendran. Dann war die »world violation« in Berlin fürs erste erledigt. Harald Fricke