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Müllterror gegen Weltmeister!

Die Schach-Weltmeisterschaft wird für Meister Garri Kasparow und Herausforderer Anatoli Karpow langsam zur Strapaze: Nach neun Partien steht es immer noch remis  ■ Aus New York Stefan Löffler

Ein Raunen ging durch die Analysesäle, im Spielsaal waren die Zuschauer nur durch das eindringliche „silence please“ vom Overhead-Monitor im Zaum zu halten. Diesen Damenzug Kasparows hatten alle längst verworfen. Die widerlegende Standardkombination gehört zum Handwerkszeug jedes besseren Vereinsspielers.

Aber nach den Erfahrungen der zweiten Partie, als ein Zug zunächst als grober Fehler, nach einer halben Stunde Analyse als spielbar und inzwischen als genial beurteilt wurde, blieb mancher oft von den Journalisten befragte Meister vorsichtig.

Tatsächlich fand man eine Falle, in die Karpow tappen konnte. Aber der Herausforderer nahm sich fast eine halbe Stunde Zeit für die Antwort. In der Partiefortsetzung ließ der Titelverteidiger mehrere Gelegenheiten aus, sich zäher zu wehren. In einem Interview sagte er, er habe ohne nähere Variantenberechnung gezogen und sich in seinen Ruheraum begeben. Dort bemerkte er auf dem Monitor sofort, was er angerichtet hatte. Aber die darauffolgende Partie wurde um ein Haar zu einem Debakel für den Weltmeister. Er hatte eine klar überlegene Stellung und genügend Bedenkzeit, während für den in Zeitnot geratenen Karpow kaum jemand einen Pfifferling gegeben hätte. Nach der Zeitkontrolle im 40. Zug hatte Kasparow einen Bauern verloren, und sein Angriff hatte sich in Luft aufgelöst. Während er kopfschüttlend einen Abgabezug in den Hängepartie-Umschlag gab, freute sich der sonst betont selbstbeherrschte Karpow wie ein Kind. Als er hörte, daß man ihm im Presseraum für das Erreichen der Zeitkontrolle applaudiert hatte, setzte er ein breites Grinsen auf und ballte die Hände zu Fäusten.

Karpow hatte in der Abbruchstellung gute Siegchancen, geriet aber ein zweites Mal in Zeitnot und ließ einen gewinnversprechenden Zug aus. Als Kasparow nach insgesamt zehn Stunden doch noch wenigstens ein Remis erreicht hatte, war die Reihe an ihm, sich zu freuen. Obwohl der Weltmeister dem 'Spiegel‘ versprochen hatte, mit seinem Kontrahenten nicht mehr als die Worte Remis, Ja und Nein zu wechseln, tauschten sich beide nicht zum ersten Mal über das eben erlebte Match aus. Dafür begegnen sich ihre Figuren auf dem Brett weniger freundlich.

Es gab wenig Verschnaufpausen, besonders die zurückliegende Woche war hart. Die 6. und 7. Partie wurde abgebrochen, aber nach nächtlicher Analyse nicht mehr fortgesetzt. Das 8. Spiel war das zweitlängste der nun 143 Partien zwischen Kasparow und Karpow. Auch wenn nur drei Spiele pro Woche angesetzt sind, zehrt das an den Kräften der Spieler. Das Tempo wird von Kasparow vorgegeben. Vor einem Jahr sagte er in einem Interview, Karpow sei es nicht gewohnt, sich voll konzentrieren zu müssen, seine Reserven bis ins letzte zu erschließen. Offenbar versucht der physisch stärkere Weltmeister, seinen Herausforderer auszulaugen. Aber langsam wird er selbst zum Opfer dieser Matchtaktik. Man hört, daß Kasparow schlecht schläft, um vier Uhr morgens beginne die Straßenreinigung vor seinem Hotel zu reinigen.

Der Vergleich seines riskanten Spiels mit „Russischem Roulette“ ist zum Running-Gag der Meister und Journalisten in New York geworden. Und nachdem Karpow nach schwachem Start sein Selbstvertrauen wiedergewonnen hat, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Kugel den hoch pokernden Weltmeister trifft.

Auch die Sekundanten und Schiedsrichter erleben anstrengende Tage. Weniger Streß haben die Großmeister, die anreisen, um das Flair dieses Schachfestes zu genießen, ohne selbst die Figuren rücken zu müssen. In einer Lounge für gerladene Gäste werden Cocktails mit klangvollen Namen wie „Weißer Russe“, „Königsindisch“ oder „Schachmatt“ gereicht.

Von den Ex-Weltmeistern Michail Tal und Boris Spasski über Viktor Kortschnoi bis zu Englands Nigel Short sind sich alle einig: Das kämpferische Niveau ist hoch. Und das Match ist an Spannung kaum zu übertreffen. Nach neun Runden steht es 4,5:4,5.

9. Partie, Karpow (weiß): Grünfeld-indisch: 1. d4 Sf6, 2. c4 g6, 3. Sc3 d5, 4. c:d5 S:d5, 5. e4 S:c3, 6. b:c3 Lg7, 7. Le3 c5, 8. Dd2 c:d4, 9. c:d4 Sc6, 10. Td1 Da5, 11. D:a5 S:a5, 12. Sf3 0-0, 13. Le2 Ld7, 14. Ld2 b6, 15. 0-0 Tfd8, 16. Tc1 Lg4, 17. d5 Sb7, 18. h3 L:f3, 19. L:f3 Sc5, 20. Le3 Tac8, 21. Lg4 Tb8, 22. Tc4 h5, 23. Lf3 e6, 24. Td1 e:d5, 25. e:d5 Le5, 26. g4 h:g4, 27. h:g4 Sb7, 28. Ta4 Sa5, 29. g5 Tbc8, 30. Le2 Ld6, 31. Kg2 Lc5, 32. Ld2 T:d5, 33. Lf3 Tdd8, 34. L:a5 — Remis.

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