Eurohorror

■ Eine schwarze Vision eines Europa ohne Grenzen DOKUMENTATION

Der Oberste Sowjet der UdSSR verabschiedete einstimmig, wie es ihm der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets verordnet hatte, das Gesetz über die sofortige Abschaffung der totalitären Diktatur, verbunden mit sofortigem Übergang zur totalitären Demokratie. Nun durfte man inner- wie außerhalb der Sowjetunion frei sich bewegen, reisen, die Stacheldrahtverhaue und Todestürme an den Grenzen wurden niedergerissen, Grenzpolizei und Zollkontrolle abgeschafft.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer über das ganze riesige Land. Ein unbeschreiblicher Freudentaumel brach aus. Auf dem Roten Platz in Moskau versammelten sich mehr als zwei Millionen Bürger. Als Michail Gorbatschow von Freiheit und Ausreise sprach, wurde seine Rede für eine gute Viertelstunde durch Jubelschreie unterbrochen. Als sich dann die Ovationen gelegt hatten und der Redner weitersprechen wollte, wurde plötzlich eine Stimme laut:

Genossen, gemma den Westen schaun

„Ausreisen dürfen wir? Alle? Jedermann? Nach Westeuropa? Nach Amerika?“ Gorbatschow bestätigte es. Egal wer, kann, egal wohin, ohne irgendwelche bürokratische Prozedur ausreisen. Da unterbrach ihn dieselbe Stimme: Towarischtschi, idjom zapad posmotritj!“ (Genossen, gemma den Westen schaun!)

Der Ruf brachte die Volksversammlung zu einem jähen Ende. Niemand war bereit, sich Gorbatschows Rede bis zum Ende anzuhören, die Menschen verließen massenweise den großen Platz, selbst die Prominenz auf der Tribüne hinter dem Leninmausoleum hatte es plötzlich eilig, es verging kaum eine halbe Stunde, und der Redner stand mutterseelenallein da, so vertieft in seine Rede, daß er nicht gleich bemerkte, was sich vor ihm, hinter ihm, neben ihm abspielte.

Bereits in der Zeit des Totalitarismus liebäugelten alle Bürger der Räterepublik mit dem Traum, sich wenigstens einmal im Leben eine touristische Reise nach Westeuropa leisten zu dürfen, aber der Traum erwies sich, wegen der bürokratischen Formalitäten bei der Besorgung eines Reisepasses, als unerfüllbar. Nur den wenigsten aus der Nomenklatura war dieses Wunder gelungen. Sie hatten Unglaubliches erzählt! Im kapitalistischen Westen waren die Läden brechend voll mit Waren verschiedenster Art, was, natürlich, nicht etwa ein Zeichen von Wohlstand war, sondern von der latenten Armut der Bevölkerung zeugte. Die Geschäfte waren nur deswegen so voll, weil sich niemand die Ware leisten konnte. Und noch etwas erfuhr man in Gesprächen mit den Auslandsreisenden: In Austria, in Wien, gibt es einen Riesenbasar, der Mexikoplatz heißt. Dort bekommt man alles, was der westliche Markt zu bieten hat, zu Schleuderpreisen! Transistorradios, Tonbandgeräte, Jeans, Shirts mit der Aufschrift „Back from Hollywood“, kurz gesagt: alles, alles, alles! Und Austria, Österreich, ist ein wunderbares Land, dessen Demokratie so weit reicht, daß man überhaupt keine Visa braucht, es genügt, sich als Flüchtling zu deklarieren, und schon ist die österreichische Regierung verpflichtet, sich einem voll anzunehmen, einem Obdach zu gewähren, Verpflegung, Arbeit, wenn einem nach arbeiten ist, oder Taschengeld, falls einem nicht nach arbeiten ist. Ein Paradies für Touristen, ein sicherer Ort für Asylanten.

Der größte Touristentrip der Weltgeschichte

Die Nachricht von der verordneten Demokratie drang in die entlegendsten Winkel der Sowjetunion, samt der Verkündigung des Gesetzes über die freie Ausreise. Da ließen die Arbeiter die Arbeit liegen, die Beamten den Aktenberg, die Sekretäre verließen ihre Sitzungen, jedermann eilte nach Hause, um zu packen.

Alle Züge, die in östliche Richtung fuhren, wurden angehalten und nach Westen umdirigiert; alle Lastwagen von den Reiselustigen angehalten, entladen, beschlagnahmt, alle Traktoren und Bulldozer und Mähdrescher und Anhänger, ja sogar Bagger in Bewegung gesetzt, von allen Seiten behängt mit Menschentrauben.

Ein gigantischer Treck, Dutzende von Millionen Sowjetbürger setzten sich in Bewegung. Alles, was Räder, und alles, was Füße hatte. Vollbeladen und bepackt mit dem Nötigsten, verstopfte der Treck alle Straßen, breitete sich über die Felder und Steppen und Wüsten aus, um, in langen und zermürbenden Tages- und Nachtmärschen schnellstmöglich die geöffnete Grenze zu erreichen.

Um Austria zu erreichen, mußten die Menschen zuerst oft tausende Kilometer ihres eigenen Landes durchqueren, dann Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn, überall die fröhliche und ansteckende Kunde verbreitend. „Gemma Westen schaun!“ Der größte Touristentrip der Weltgeschichte erfaßte in seiner ersten Welle mehr als hundertfünfzig Millionen reiselustige Ostländler. Die Vorhut dieser Riesenbewegung erreicht die Grenze Österreichs in den späten Abendstunden. Die österreichischen Behörden und Fremdenverkehrseinrichtungen hatten keine Ahnung, was für eine Flut das Land in seiner vollen Breite und Länge heimsuchen würde. Nach anfänglichen Versuchen, ihre Pflicht zu erfüllen, resignierten die Grenzbeamten total. Es war unmöglich, die ganze Grenze unter Kontrolle zu halten, die Fremdenverkehrsgäste überschritten sie in breiter Front.

Die beim ersten Eintreffen der Hiobsbotschaft in Alarm versetzte Polizei war überfordert. Die übermüdeten, hungrigen, ungewaschenen Touristen achteten nicht auf Anordnungen, Verbote, Gesetze, sie zogen durch die Städte und Dörfer, drangen, um sich vor Nachtkälte zu schützen, in die Häuser, Wohnungen, Schulen und Amtsgebäude ein, streckten sich, kaum daß sie ein Dach über dem Kopf wußten, auf dem Boden aus, um neue Kräfte für die morgige Fahrt und den morgigen Marsch zu sammeln. Binnen weniger Tage war ganz Österreich von der Menschenflut überfordert, jede Stadt, jedes Dorf, aber auch die Wiesen und Felder und Wälder und Berge von der Plage dieses gigantischen Massentourismus heimgesucht.

Zuerst versuchten die Müden, die Hungrigen und von Durst Geplagten auf ordentliche Weise zu etwas Eßbarem, Trinkbarem, Genießbarem zu kommen. Hatte es nicht geheißen, man könne für eine Dose Kavier im Westen monatelang leben? Und die Matruschka hatte bereits in Moskau zu den begehrtesten Souvenirs gehört. Und Bucharateppiche hatten im Westen märchenhafte Preise erzielt. Und sibirische Diamanten genossen Weltruf. Sie kamen nicht etwa als Bettler, sie haben was anzubieten, etwas, egal für was, Krimsekt, Chatkakrabben, Wodka, Lachskonserven, armenischen Cognac, Blaufuchspelze. Zuerst ging es einigermaßen ordentlich zu, etwas für egal was. Nur waren die mitgeschleppten Vorräte bald alle, da stürmte man die Läden.

Da erinnerten sie sich des begnadeten Stalin

Die Schweizer, die Deutschen, die Italiener bekamen rechtzeitig Kunde von dem sich nähernden Unheil, um gewisse Vorbereitungen zu treffen. In einer Rekordzeit, die die Rekordzeit des Baus der Berliner Mauer weit übertraf, versuchten Armee-Einheiten, unterstützt von Freiwilligen aus der Zivilbevölkerung, unüberwindbare Verhaue aufzustellen, aus Beton, Mauerwerk, Stacheldraht, Baumstämmen. Alles vergeblich, auch der Schießbefehl vergeblich, die Mauern aus Toten wuchsen und wuchsen, um von weiteren von hinten Gedrängten überklettert zu werden. So kann man eine Million Menschen aufhalten, zwei Millionen... — aber bei Dutzenden Millionen ist die bestausgerüstetste Armee überfordert, der Munitionsvorrat verbraucht, das Massakrieren strapaziert die Nerven, auch der beste Soldat dreht bei einem solchen Gemetzel durch, bekommt es mit der Angst, fällt in Panik.

Was in Wien geschah, wiederholte sich in Bayern, dann im Rheinland, dann in Belgien und den Niederlanden. Erst der unendliche Ozean stoppte die Menschenflut, den Lemmingzug, die Heuschreckenplage. Da erinnerten sich überlebende Menschenrechtsbewahrer des erhabenen Stalin. Unter seiner begnadeten Diktatur war so etwas undenkbar. Ladislav Mnacko

Der Autor ist slowakischer Schriftsteller. 1968 emigrierte er nach Österreich. Gekürzter Beitrag aus 'Forum‘, 10/11 1990, Wien.