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Digital Magic

Das Cyberthon in San Francisco — Computerwelten des 21. Jahrhunderts, 2. Folge  ■ Von Mathias Bröckers

Ein Gespenst geht um in Amerika und Europa — das Gespenst des Cyberspace. Der Romancier William Gibson legte mit seiner Science-Fiction-Trilogie „Neuromancer“ (taz v. 18.9.90) die Minen, deren Folgen uns jetzt als Rauchschwaden der Feuilletons und Wissenschaftsblätter entgegenwehen. Als Geraune von virtueller Realität (VR), von Telepräsenz, von totaler Simulation und von einem neuen öffentlichen Raum multidimensionaler Global-Kommunikation. Neben fabelhaften Andeutungen technischer Effizienz zeichnen sich Konturen einer neuen Philosophie und Ästhetik ab: der Eintritt des Bewußtseins in den digitalen Raum, das „Verschwinden“ im Bildschirm mittels Daten-Anzug. Die abendländische Vorstellung einer Realität wird aus den Angeln gehoben. Das Hyperreale wird zur populären Emotion. Das einzige, was hinterherhinkt, ist die Technik: Bis die Maschinen, die auf der Cyberthon-Konferenz in San Francisco vorgestellt wurden, so weit sind, wie in insgesamt 40 Vorträgen gedacht wurde, müssen noch einige fette Mega-Byte-Jahre ins Land gehen.

Auf dem Weg zur sichtbaren Sprache

Was hat ein Ethnologe und Schamanismus-Forscher wie Terence McKenna auf einer High-Tech-Veranstaltung wie dieser zu suchen? „Auf dem Weg hierher“, eröffnet er seinen Vortrag, „hörte ich im Autoradio einen Song von Living Colour mit dem Refrain 'Everything is possible, nothing is real‘; im Geist ergänzte ich die nächsten beiden Zeilen: 'Everything is virtual, but what can you feel?‘. Der Grund, warum ich am Rand dieser Gesellschaft von Computer-Freaks herumhänge, ist eine große Hoffnung, und virtuelle Realität (VR) ist ein Teil davon: der Hoffnung, daß wir die Welt noch retten können, indem wir sie mit ihrer Vergangenheit verbinden. Das ist eine sehr merkwürdige Idee, um sie vor einem Publikum wie diesem auszuführen, aber: die Menschen haben mit virtueller Realität seit ungefähr 125.000 Jahren zu tun. Nur nannten sie es nicht so, sie nahmen psychedelische Drogen — dies ist die älteste Form von Entertainment. Mittlerweile ist die Sache illegal, aber das ist heute nicht unser Thema. Was virtuelle Realität möglich machen wird, ist: die Fähigkeit einer Person, den Inhalt ihrer Imagination einer anderen Person zu zeigen. Das ist eine Möglichkeit, die es noch nie gab — Ölbilder, Skulpturen, elektronische Piksel sind unsere wenig befriedrigenden Mittel, Imaginationen zu teilen. Wie kann VR darüber hinausgehen? Unsere Welt ist vernetzt durch kleine Mund-Geräusche, Sprache, die elektronisch übertragen werden, oder durch Symbole für kleine Mund-Geräusche, Schrift — nicht gerade ein breites Band der Kommunikation. Meine Vorstellung ist, daß die VR-Technologie genutzt wird, um aus Sprache etwas zu machen, das wir sehen können, sie aus einem Geräusch in ein Bild zu überführen. Unbewußt scheint die Sprache das Visuelle ohnehin zu bevorzugen: 'Er spricht klar‘ sagen wir, oder – 'Ich sehe, was du meinst‘, unser Verstehen selbst scheint an visuellen Input gebunden. Die VR-Phantasie sieht nun so aus: Wir nehmen die Bestandteile unserer Sprache, die Artikel, Adjektive, Verben und belegen jedes mit einer geometrischen Bezeichnung. Wenn ich mich nun in einem virtuellen Raum mit jemandem unterhalte, bewegt sich, über meinem Kopf, eine Mobile-artige Figur nach den Regeln der englischen Grammatik und der Struktur meiner Syntax.

Auf den ersten Blick scheint das ein Witz, etwas Lächerliches wie eine Farb-Orgel oder dergleichen. Aber es ist nicht einfach Farbe, es ist Geometrie, Struktur, Form. Also das, was Chomsky und andere über die Sprache gefunden haben: daß sie strukturell, topologisch ist. Die Geschichte der Menschheit und der Technik ist insofern nichts anderes als der Versuch, immer mehr Worte sichtbar zu machen. Was mich auf diese Idee brachte waren die psychedelischen Pflanzen, namentlich Ayahuasca, die die Ureinwohner im Amazonas-Gebiet nehmen. Ich war eingeladen zu ihren Ritualen und Gesängen und wollte mich am nächsten Tag bedanken: 'Ihr habt großartig gesungen‘, sagte ich, 'es klang wunderbar‘. 'Es interessiert uns nicht, wie es klingt, wie hat es ausgesehen?‘, fragten sie.

Ich glaube, das ist eine sehr tiefe, wichtige Angelegenheit: Wenn du sehen könntest, was ich meine, wärest du, in einem gewissen tiefen Sinne, ich, der point of view, ist alles. Sprache ist eine äußerst provisorische Art der Kommunikation. Wir verstehen einander nur, solange wir nicht zu viele Fragen stellen. Zu sehen, was wir meinen, das ist für mich die erstrebenswerte Anwendung der VR-Technologie. Ich wäre sicher nicht hierher gekommen, wenn es sich nur um ein Medium handelte, das die Dummen und Ungebildeten noch besser, diesesmal sogar dreidimensional, verarscht.“

Cyberspace also als eine neue Epistemologie, ein revolutionäre Erweiterung von Erkenntnis und Wahrnehmung? Für Terence McKenna schließt sich mit dem Aufkommen der virtuellen Realität der Kreis zum Archaischen — am Anfang stand nicht das Wort, sondern der Transit in andere Realitäten, der Kontakt mit „überirdischen“, „göttlichen“ Wirklichkeiten, dessen visuelle Erfahrung dann in kleine Mundgeräusche rückübersetzt werden mußte: „Das Herz der Menschheitsgeschichte, der Urgrund aller Mythen und Religionen, ist die psychedelische Erfahrung. Und diese scheint mir auch der Antrieb zur Entwicklung der VR-Technologie zu sein. Deshalb ist es ein Fehler, wenn die Frage nach dem Zusammenhang von VR und psychedelischen Drogen kommt, ängstlich zu sagen: ,Oh, nein, um Gottes Willen, damit hat es nichts zu tun.‘“

Über eine visuelle Sprache noch einen Schritt hinaus geht das, was der Pionier-Bastler der VR-Technologie, Jaron Lanier, als „post-symbolische Kommunikation“ bezeichnet: die Möglichkeit, „ohne Repräsentation“ zu kommuninzieren, in einer kompletten Als-ob-Welt: „Was wir in der virtuellen Realität haben, ist die Fähigkeit, direkt eine gemeinsame Realität aufzubauen. Man beschreibt nicht einfach Dinge, man macht sie. Das verlangt eine Technik, die es ermöglicht, eine virtuelle Welt in allen Aspekten so schnell zu konstruieren, wie man über sie spricht. Diese haben wir noch nicht, aber sie wird meiner Ansicht nach bald kommen. Das Ergebnis wäre eine Situation, die man als geteilten Klartraum beschreiben könnte: alles ist möglich, relativ einfach machbar und mit anderen zu teilen. Es ist eine Kombination der ojektiven physikalischen Welt mit der Grenzenlosigkeit von Träumen und Imaginationen.“

Zwischenfrage: „Was wird diese ganze Technologie für unsere Kinder bedeuten?“ Jaron Lanier: „Eine entwickelte VR-Technologie kann meiner Meinung nach für Schule und Bildung ziemlich nützlich sein. Nicht nur, daß die Schulklasse, statt im Buch von der Saurierzeit zu lesen, gemeinsam in einer 3-D-Simulation auf Erkundung gehen kann — darüberhinaus kann auch jedes Kind Tyrannosaurus werden, und sehen, was geschieht, wenn es seinen Nachbarn frißt...

In der von Lanier entwickelten „Reality Built for Two“ sind auch schon Ballspiele zu zweit möglich; bis aber Schulklassen in die Saurierzeit eintauchen können, wird es nach seiner Einschätzung noch 20 Jahre dauern. Die Lage der VR-Technologie gleicht ein wenig der des Kinos vor hundert Jahren: Kameras und Projektoren waren entwickelt, aber es gab keine Industrie, die direkte Verwertung dafür hatte. Filme stellten nur kurioses Beiwerk zu anderen Kunstaufführungen dar, ein Spektakel der Rummelplätze und Vergnügungsparks. Innerhalb von 20 Jahren enstand aus der Film-Technologie eine große Industrie und eine neue Kunstform — 1909 existierten in USA bereits 8.000 „Nickelodeon“- Kinos.

Dem Cyberspace wird eine solche Spielhallen-Kindheit ebenso blühen wie die spöttische Verachtung als Pseudokultur, Techno-Tineff, entseelte Maschinenkunst — und doch wird es längst nicht bis 2.009 dauern, bis die Massen für ein paar Mark in interaktive Simulationen eintauchen. Und damit poteniell in Zustände, wie sie ein früher Theoretiker des Hyperspace, Friedrich Nietzsche, beschrieben hat: „Der dionysische Mensch ... besitzt die Kunst der Kommunikation im höchsten Maße. Er dringt in jede Haut, in jede Emotion ein, er transformiert sich kontinuierlich.“ Sich im Kopf des Partners zu verstecken, gehört derzeit zu den beliebtesten der VPL-Software — für alles weitere bedarf es der hohen Kunst der Hyper-Raumaustattung, einer Technik, welche den Künstlern von heute ebensowenig geläufig ist wie den Brüdern Lumière damals Technicolor.

VR everywhere und Reality-Hacker

„VR everywhere!“ — die auf Buttons und T-Shirts verbreitete Parole deutet auf zweierlei: unsere Wirklichkeit ist in einem Maß von Medien bestimmt, daß ihr längst das Prädikat „virtuell“ zukommen muß — und VR ist eine Bewegung, die ihre allgemeine Ausbreitung fordert. Es sind drei kreative Subkulturen, die den Strom der VR-Bewegung bilden:

—die Technik des Cyberspace kommt nicht von IBM oder von anderen Pentagon-Lieferanten, sie kommt von unten, aus der Szene der Computer-Hacker und -Freaks. Nicht Cray-Superrechner, sondern handelsübliche, leicht frisierte Apple-PCs sind die Basis der VR-Technologie. Das freie, ungehinderte Schwimmen im Datenfluß, die interaktive Nutzung elektronischer Kommunikationswerkzeuge — diese Leitidee der Hacker-Community beflügelt auch die „Reality-Hacker“.

—die Software stellt die größte Herausforderung an die Kunst seit Erfindung der Höhlenmalerei dar, und so wundert es nicht, daß die Keyboarder der Computer-Kunst — die Code-Poeten, Digital-Musiker und Hypermedia-Installateure — den Bau dieses alle Medien umfassenden Instruments VR vorantreiben. Cyberspace ist die ästhetische Umwertung aller Werte: die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt, Zuschauer und Schauspieler, Realität und Imagination, Wille und Vorstellung.

—Philosophie und Meta-Programm des Cyber-Mediums liefert eine dritte Subkultur: die 90er Version der San Francisco/Berkeley-Bewußtseinserweiterungsszene der 60er Jahre, Leute, die immer noch darauf bestehen, daß sich die Welt nur ändert, wenn sich das Bewußtsein ändert — und die in der VR- Technologie ein potentes Werkzeug sehen, zur Erweiterung der Wahrnehmung und damit des Bewußtseins. Cyberspace bildet die Endstation der Idee eines planetarischen Netzwerks, des „globalen Dorfs“, das der Theoretiker McLuhan versprach und von den Ein-Bahn-Medien des 20. Jahrhunderts nicht mit Leben erfüllt werden konnte.

Die Realität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

Diese drei Strömungen, die beim Cyberthon in San Francisco zusammenliefen, bilden nicht einfach nur den Quell einer beliebigen Pop-Kultur, deren modische Zuckungen in Form neo-psychedelischer Cyber-Parties schon bis in deutsche Provinz-Discos vorgedrungen ist. Sie ziehen die nahezu zwingende Konsequenz aus dem, was die naturwissenschaftliche Erforschung über den Zusammenhang von Gehirn, Bewußtsein und Chaos erbracht hat. Für den Schriftsteller Robert Anton Wilson impliziert VR letztlich eine Art Techno- Zen: „Die wichtigste Entdeckung der modernen Neuro-Wissenschaft besteht meines Erachtens in der Tatsache, daß jede 'Realität‘, die wir wahrnehmen, aus einem Ozean mehr oder weniger zufälliger Signale entsteht, die unser Gehirn auswählt, organisiert und orchestriert. Zu Ausschnitten, Mustern, Gittern, oder zu (in Timothy Learys wunderbarem Term) ,Realitätstunneln‘. Sich des Prozesses bewußt zu werden, mit dem das Gehirn diese Realitätstunnel aus einem potentiellen Chaos heraus erschafft, befreit uns von vielen Formen unbewußter Bigotterie und unüberprüften Annahmen.“

Daß virtuelle Realität für die Allgemeinheit erreichbar gemacht werden könnte — was bisher Yogis, Zen- Meistern und kriminellen Konsumenten psychedelischer Pflanzen vorbehalten ist, die Konditioniertheit jeder Wahrnemung, jedes Dogmas zu erkennen und Bewußtheit über sich selbst als Mit-Schöpfer jeder Art von Realität zu gewinnen — dies kam in einigen der Cyberthon- Beiträge zur Sprache. Und hier ist der Punkt, an dem die scheinbar harmlose Digital-Magie zur subversiven Instanz wird: Sie kündigt die breiteste aller menschlichen Übereinkünfte, den Konsens über die Objektivität der Wirklichkeit. „Realität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ würde der Essay heißen, den ein Walter Benjamin angesichts des neuen Mediums zu schreiben nicht umhin käme — um von seinem Freund Adorno zu hören zu kriegen, daß technisch reproduzierte Realität zweifellos dem Reich des Faschismus angehöre. Wie einseitig und undialektisch ein solches Verdikt ist, hat ein aktuelles Kapitel der deutschen Mediengeschichte gerade gezeigt: Es war die elektronische Realität des Volksempfängers, die akustische Telepräsenz des Führers, die die totale Mobilmachung ermöglichte — und es war die von ARD und ZDF, die nach Westen gerichteten Antennen der DDR-Bevölkerung, welche die Mauer zum Einsturz brachte. Wer nach Beispielen für die Virtualität des Alltags sucht, findet im Verschwinden der DDR einen modernen Klassiker direkt vor der Haustür: Nur dank der elektronischen Übertragung kleiner Mund- Geräusche wurde ein fest und blutig in der Wirklichkeit verankertes System ohne einen Tropfen Blut beseitigt.

Das Medium, mit dem wir uns zu Tode amüsieren können, ist auch ein unübertreffliches Werkzeug persönlicher Befreiung — diese Lektion gilt für das „medium to end all media“ — die virtuelle Realität — in exponentiellem Maß. Repressiv eingesetzt führt sie geradewegs in die technologische Hölle, als individuelles Kommunikationswerkzeug dagegen kann sie Mauern zum Einsturz bringen: die Mauern der Wahrnehmung. Und damit nicht nur ungeahnte Reisefreiheiten eröffnen, sondern auch eine Pression beseitigen, die für das tödliche Beschleunigungsrennen der Moderne, welches Paul Virilio diagnostiziert, im Kern verantwortlich ist. Vielleicht kommt dieser Affe, der seit 5.000 Jahren Technologie ausspuckt, um die Trägheit seines Körpers abzulegen, erst zur Ruhe, wenn er sitzen bleiben kann — und gleichzeitig in Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist. Dann, so die Vision der Cybernautik, könnte aus dem Affen doch noch ein Engel werden.

Der erste Teil des Berichts erschien am 30.10.90.

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