Die Provinzialsierung der Städte

Statt zu der beabsichtigten Modernisierung der Dörfer kam es in der Sowjetunion zu einer Verdörflichung der Städte/ Der Nationalitätenkonflikt zerstört nun die letzten Überbleibsel einer kosmopolitischen urbanen Kultur/ Die städtischen Infrastrukturen sind bereits weitgehend zusammengebrochen  ■ Von Gassan Gussejnow

Die Losung „Nieder mit dem Unterschied zwischen Stadt und Land!“ hat sich im Laufe der Sowjetgeschichte als eines der hartnäckigsten offiziellen ideologischen Elemente erwiesen. Natürlich ging man davon aus, daß die Stadt dem Alltag des „unglaublich rückständigen“ Dorfes ihre Bedingungen diktieren werde. In gewisser Weise ist es auch wirklich zu einer solchen „positiven Annäherung“ zwischen Stadt und Land gekommen: Elektrifizierung und Mechanisierung sind nicht bloß Ausgeburten unserer Propaganda.

Bei näherer Betrachtung stellt sich diese „Annäherung“ jedoch als Provinzialisierungsprozeß heraus. Mit anderen Worten: Gerade die spezifischen „urbanen Züge“ der Städte gingen verloren, jene Infrastruktur, die einst die aktiveren Jugendlichen aus Dörfern und Provinzstädtchen in die größeren und kleineren „richtigen“ Städte gelockt hat.

Dieser Prozeß sei hier am Beispiel dreier Städte beschrieben: da ist erstens Moskau, eine gigantische Raumfresserin, deren genaue Einwohnerzahl keinem einzigen Geheimdienst bekannt ist, und von der man nur weiß, daß sie allein innerhalb der hundert Kilometer langen städtischen Ring-Autobahn etwa neun Millionen Menschen beherbergt. Zweitens Baku, eine Zweimillionenstadt, die kürzlich zur Arena des größten antiarmenischen Pogroms und des blutrünstigsten Armee-Einsatzes gegen friedliche Bürger in der sowjetischen Geschichte wurde und die sich heute praktisch im Kriegszustand befindet. Und schließlich Tschernowzy — ein relativ bescheidenes Provinzzentrum, das, wie viele seinesgleichen, einst zur k.&k.-Monarchie gehörte.

Während der gesamten Nachkriegsgeschichte spielte Moskau die Rolle des Köders für alle Hungernden und Frierenden, weil es nämlich als einzige Stadt im Lande hartnäckig mit Lebensmitteln und Industriegütern versorgt wurde. Hier konnte man am leichtesten Arbeit finden und sich gleichzeitig in der Menge verkrümeln. Die übliche Methode, sich in Moskau anzusiedeln, war, sich nach dem „Limit“-System einstellen zu lassen: die schlechtbezahlten Arbeiten für die Kommunalverwaltung waren leicht zu haben. Danach konnte man sich dann immerhin polizeilich anmelden — um schließlich den Arbeitsplatz als Sprungbrett zu besser bezahlten und angeseheneren Tätigkeiten zu nutzen. Diesem Mechanismus ist es zu verdanken, daß die Moskauer Stadtverwaltung heute praktisch zusammengebrochen ist.

Wenn wir Moskauer Bürger im Winter gewisse Straßen befahren, setzen wir uns ebenso bewußt wie notgedrungen einer Gefahr für Leib und Leben aus. Im Sommer schwebt die Drohung von Epidemien über uns: Es ist dreckig, in Wohnvierteln, die Hunderttausende beherbergen, gibt es manchmal wochen- und monatelang kein warmes Wasser.

Proportional zur Höhe der neuen Hochhäuser, deren jedes hunderte von Wohnungen birgt, schwinden die kommunalen Dienstleistungen. Das fängt an mit der Post, die bisweilen schon zwei Wochen braucht, um eine Karte innerhalb (!) der Stadt zuzustellen; dann die Abfallhalden, deren Brände die Feuerwehr mehr als alles andere beschäftigen, ganz zu schweigen von der Beförderung eines Kranken ins Hospital oder eines Verstorbenen auf den Friedhof: so etwas in Moskau gut organisiert — und vor allem rechtzeitig — zu erledigen, ist praktisch unmöglich.

Die Stadt ist mit unqualifizierten Arbeitskräften überfüllt, die in ihrem schlecht organisierten Alltag die Unarten einer halbdörflichen Existenz pflegen. Hier hat die Verwahrlosung des städtischen Ödlandes, die Kinder-, Jugendlichen- und Behindertenfeindlichkeit, ihre Ursachen. Daraus resultiert auch der zunehmende Alltagsvandalismus — eine spezifische Form der Gewalt der durch ihre Lebensumstände „lumpenproletarisierten“ sozialen Schichten gegen sich selbst.

Wie kann man es zuwege bringen, Moskau aus einem gigantischen unterentwickelten Dorf wieder in eine Stadt zu verwandeln? Diese Frage stellt sich aber keineswegs nur hier.

Nehmen wir Baku. Hier hat die Politik der letzten 25 Jahren eine geradezu tragische Wirkung gehabt: Es sollten nämlich vor allem die „nationalen Kader“ zum Zuge kommen. Dies bewirkte praktisch eine Provinzialisierung. Die Neuankömmlinge kontrollierten die wichtigsten Posten in der Stadtverwalttung und viele Schlüsselpositionen in der aserbeidschanischen Republikverwaltung. Doch zumindest anfangs fungierten sie keineswegs als Träger einer nationalistischen Ideologie.

Doch mittlerweile spitzt sich der soziale Gegensatz zwischen den kosmopolitisch orientierten „Alt-Bakuern“ — Aserbeidschanern, Juden, Armeniern und Russen — und den praktisch ausschließlich aserbeidschanischen Ankömmlingen aus den provinzielleren „Gouvernements“ allmählich zu. Erstere und letztere geraten nun als „entwurzelte Elite“ und „patriotische Kräfte“ in Widerspruch zueinander. Die damit einhergehende „Nationalisierung“ der städtischen Verwaltung und der kommunalen Einrichtungen hat Baku an den Rand einer ähnlichen Katastrophe geführt, wie Moskau.

Ohne die Armenier, die bereits aus Baku vertrieben wurden, ohne die Juden, die jetzt gerade gehen, und ohne jene alteingesessenen Russen und Aserbeidschaner, die die Stadt ohne ihren verblaßten kosmopolitischen Charme nicht mehr lange ertragen können, ohne sie alle ist Baku zum rapiden zivilisatorischen und kulturellen Abstieg verurteilt.

Und nun zu Tschernowzy, einem der malerischsten Orte im Westen der UdSSR: Dieses Städtchen hat im letzten Vierteljahrhundert fast alle seine einst so zahlreichen jüdischen Einwohner verloren. Die letzten machen sich jetzt auf den Weg, nach Israel und in die USA. Die ukrainische und russische Mehrheit der zurückbleibenden Bürger beklagt sich derweil immer heftiger über die „Moldauisierung“, über das allmähliche Einsickern einer aktiven moldauischen Minderheit in der Stadt, die dort zunehmend — und da haben wir es wieder! — kommunale Ämter besetzt. Diese Neubürger halten es offenbar für möglich, in einer Stadt, die — einst von der österreichisch- ungarischen Monarchie an Rumänien abgetreten werden mußte und von Rumänien wiederum an die Ukraine — alle sozialen Konflikte und vor allem das Problem der zerbröckelnden städtischen Infrastruktur im Rahmen der „nationalen Frage“ zu lösen.

Daß die städtischen Infrastrukturen in dem Maße zerstört werden, wie sich der Nationalitätenkonflikt verschärft, zeigt sich in den meisten Städten des Landes. Eine Renaissance der nationalen Toleranz ist in der UdSSR vorerst nicht in Sicht. Ohne sie ist aber der Begriff der Stadt im traditionellen europäischen Sinne der „Polis“ undenkbar. In ihrer vielerorts berechtigten Empörung gegen die nach dem Zweiten Weltkrieg forcierte Ansiedlung von Russen auf ihrem Territorium schütten die verschiedenen Sowjetnationen das Kind mit dem Bade aus. Der gegen die „Imperialisten“ gerichtete Boykott trifft mitunter auch jahrzehnte- oder gar jahrhundertealte russischsprachige Kulturinstitutionen, die aus der Tradition dieser Gebiete gar nicht wegzudenken sind.

Daß nationale und übernationale Interessen Hand in Hand gehen, war für die Bürger von Städten mit einer so multikulturellen Einwohnerstruktur wie Riga, Odessa, Baku, Tallinn, Moskau oder Tbilissi im russischen Imperium und auch in der jungen Sowjetunion eine Binsenweisheit. Wenn man sich das heute nicht mehr eingestehen will, müssen diese äußerst anfälligen Knotenpunkte für das Miteinanderleben von Millionen von Menschen als Städte zwangsläufig aufgegeben werden. Übersetzung: Barbara Kerneck