KOMMENTAR
: Unsere Zukunft ist europäisch oder gar nicht

■ Thatchers Vize, Sir Geoffrey Howe, nahm den Hut

Seit Dienstag nacht atmen die Briten kontinentale Luft. Der Durchbruch des Ärmelkanaltunnels, vorerst nur ein Entlüftungsschacht, macht mit der Europäisierung der britischen Insel ernst. Erstes Opfer der nun unverfälscht von Meereswinden über England wehenden Euro-Düfte scheint ausgerechnet Maggie Thatchers Vize Sir Geoffrey Howe zu sein. Daß auch er sich nun in das Lager der Kontinent-Süchtigen abseilt, wird der Europakritikerin nicht gefallen. Nicht ihre Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel, die ist schon längst dahin. Weder in Großbritannien noch auf dem Kontinent findet ihr anti-europäischer Kurs noch viele Anhänger. Was gibt ihr dennoch die Macht, den EG-Architekten in der eigenen Partei und in Brüssel zu trotzen? Angst vor der scharfen Zunge der „Tyrannin“ lähmt autoritätsfixierte Tory-Politiker und EG-Regierungschefs gleichermaßen. Doch Abtritte wie die von Howe gestern oder von Vize-Schatzkanzler Nigel Lawson vor einem Jahr machen der Männerriege Mut. Immer frecher fordert etwa EG-Kommissionschef Jacques Delors die Eiserne Lady heraus — unter dem beifälligen Grinsen seiner männlichen Mitstreiter.

Sie haben gut Lachen. Denn die Attacken der streitbaren Dame behindern den europäischen Einigungsprozeß nur geringfügig. Ohne sie würden zwar die gelegentlichen Gipfeltreffen langweiliger ausfallen. Außerdem müßten sich die EG-Architekten einen anderen suchen, dem die Schuld für den antisozialen und umweltfeindlichen Charakter des Binnenmarktprojekts in die Schuhe geschoben werden könnte. Aber indem sich Maggie Thatcher als Wortführerin gefällt, erlaubt sie den restlichen Elf, ihr Integrationskonzept in aller diplomatischen Stille abzuwickeln. Zwar gibt es jede Menge Streitpunkte bei den jetzt anstehenden zwei EG-Regierungskonferenzen, auf denen der weitere Fahrplan für die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die politische Union der EG beschlossen werden soll. Doch im Grundsatz, das hat sich in den letzten Wochen trotz gegenteiliger Rhetorik gezeigt, sind sich die Zwölf weitgehend einig. Howes Abgang mag so gesehen lediglich eine neue Phase britischer Euro-Propaganda einläuten, die Konsequenzen für die Selbstdarstellung seiner kontinentalen Kollegen haben wird. Bislang sind die EG- Architekten mit ihrem Showkampfprinzip „Eiserne Lady gegen elf zartbesaitete Männer“ gut gefahren. Begeistert stürzt sich das Publikum auf den abgefahrenen Ehestreit. Doch während Euro-Dallas die EG-Bürger erfreut, können die Eurokraten unverdrossen an ihrem neuen Europa basteln. Ähnlich wie beim US-amerikanischen Vorbild soll dort auf regionaler und nationaler Ebene Demokratie gespielt werden dürfen, während sich auf EG- Ebene die zahlungskräftigen Lobbyisten die Macht mit der Eurokraten- und Ministerkaste teilen. Unter dem beruhigenden Slogan „Beseitigung des EG-Demokratiedefizits“ bereiten dabei die Außenminister ihre Beförderung zum omnipotenten „Politischen Rat“ vor, dem in Zukunft weder Europaparlament noch EG-Kommission ins Handwerk pfuschen können sollen.

Was sagte der Labour-Abgeordnete im Europaparlament, Glyn Ford, zu den anti-deutschen Ausfällen des britischen Ex-Industrieministers Nicholas Ridley im Juli? „Unsere Zukunft ist europäisch oder gar nicht“. Gar nicht ist keine Alternative mehr. Michael Bullard, Brüssel