Das Damoklesschwert

■ In aller Öffentlichkeit wird bereits über den D-Day diskutiert, den Tag, an dem die Golfkrise zum Golfkrieg wird — als ob es keine Alternativen gäbe DEBATTE

Niemand, der es nicht wüßte. Kaum jemand, der nicht dennoch gut unter ihm schliefe, unter dem Damoklesschwert „militärischer Optionen“, das seit August über unseren Betten hängt. Oder kommt es doch noch zu einem diplomatischen Kompromiß, der Saddam Hussein straffrei an der Macht und an der Spitze einer starken Armee läßt und ihm sogar einen freien Zugang zum Meer und Anteil am kuwaitischen Öl gibt. Und im Fall einer militärischen „Lösung“: Gibt es einen schnellen Sieg, oder wird es zu „Komplikationen“ kommen, wird eine völlig unausdenkbare Eskalationslawine losgetreten?

In Orwells 1984 — wir sind „realiter“ sechs Jahre weiter! — werden Weltkriege geführt, deren Realitätsstatus völlig ungewiß bleibt, vielleicht handelt es sich bei ihnen um bloße Mediensimulationen. Wir müssen Orwells Weltkriege der dritten Art aus ihrem Kontext eines totalitären, terroristischen Systems herauslösen und sie in die Sauce von Brave New World tauchen, um unserer Wirklichkeit näher zu kommen. Was dabei herauskommen könnte, wäre etwa die Schizophrenie von 'Bild am Sonntag‘ und 'Welt am Sonntag‘, wo zwischen Sexfotos und Modellen der Frühjahrsmode („Ultramini mit freiem Bauch, Paris zeigt Farbe und Figur“) General a.D. Schmückle in einem Kommentar schreibt: „Bush hat am Golf die größte US-Streitmacht seit Vietnam versammelt. Zieht er sie sang- und klanglos wieder ab, wäre dies sein politisches Ende.“ Also wird es singen und klingen müssen, meint Schmückle, und zwar noch vor Weihnachten — übrigens der gleiche Schmückle, der für die UNO-Bundeswehroption eintritt und schon vorgeschlagen hat, dazu 50.000 deutsche Marines aufzustellen ('BamS‘ vom 28.10.). Oder etwa die ('WamS‘ vom 14.10.): „Angriff auf Bagdad in einer mondscheinlosen Novembernacht?“ Wetten, daß normale Leser „Mondscheinnacht in Bagdad“ wahrnehmen und Scheherazade assoziieren?

Das Rätselraten hat längst begonnen

Dabei werden sogar genaue Termine für den „D-Day“ genannt: vor dem 6.November (wegen der US-Wahlen, taz vom 26.10.), ab dem 15.November (wegen ominöser Gerüchte aus englischen Krankenhäusern, taz vom 27.10), oder: „Ab Ende Oktober wird es kritisch am Golf“ ('WamS‘ vom 14.10.) — Begründung: Weil dann „die große Hitze des Sommers mit hoher Luftfeuchtigkeit sich dem Ende zuneigt“. Dieses günstige Klima für Wüstenkriege ende im Februar, „wenn die Sandstürme beginnen“. Beruhigende Message: All das kann Teil einer Desinformationskampagne gegen Saddam sein. Gleich danach die beunruhigende Message: Solche Desinformation macht nur dann Sinn, wenn es „reale“ D-Days zu tarnen gibt. Derweil geht das normale Leben weiter: Nicht nur die Moden wechseln, es gilt auch, den nächsten Kindergeburtstag vorzubereiten und zu entscheiden, ob wir noch einmal Mumienwickeln mit Klopapier spielen sollen.

Wo sind die Normen der Normalität?

Unsere Welt ist eine Welt der Normalität. Wir legen Normen fest, d.h. quantifizieren alle Bereiche, erfassen sie statistisch, berechnen die Durchschnitte, legen Toleranzzonen und Grenzwerte der Toleranz fest, damit bei Überschreitung der Grenzwerte der Staat regulierend (normalisierend) einschreiten kann. Das gilt genauso für die Anzahl von Aids- oder Drogentoten wie für Arbeitslosenzahlen, Rentenhöhe, Staatsschulden, Nukleararsenale und Nuklearverseuchung, Fluß- und Bodenvergiftung, Ölpreis und Profitrate. Dieses „Dispositiv“ (Foucault) scheint sich überwältigend bewährt zu haben, weshalb die Ex-Kommunisten noch viel fanatischer an seine Allmacht glauben als wir selber. Und dennoch häufen sich die Gefahren eines Kollapses, d.h. werden die Grenzwerte, bei denen die „sanfte Landung“, d.h. die „gleitende“ Normalisierung nicht mehr möglich scheint, überschritten. Dann bleibt noch der Schock des Notstandsschlags (Carl Schmitt und Benjamin) — mit der Hoffnung, danach wieder Zeit zur Normalisierung zu finden.

Notstandsschlag als Alternative?

Unsere Schizophrenie angesichts dessen, was „Golfkrise“ genannt wird, entspricht einer solchen Grenzsituation: Der diplomatische Kompromiß in letzter Sekunde hieße, den üblichen Verfahren der Normalisierung auch hier noch zu vertrauen. Die Alternative ist der Notstandsschlag — mit dem Risiko globaler Denormalisierung bei „Komplikationen“.

Äußerst real sind die Diskurse der Normalisierung, weil sie ihre Realität selbst schaffen. Dazu gehört die eiserne Computerlogik der Optionsalternativen auf binären Entscheidungs-„Bäumen“. O-Ton Richard Perle, Ex-Vize-Verteidigungsminister der USA ('Die Zeit‘ vom 26.10.): „Aber ein freiwilliger Rückzug des Irak, der nicht einherginge mit der Zerstörung der riesigen Kriegsmaschinerie des Landes, würde die westliche Welt auch weiterhin einer ernsthaften Gefahr aussetzen [...] Was bleibt Amerika unter diesen Umständen zu tun? Präsident Bush sollte so schnell wie möglich einen Angriff auf das irakische Militär vorbereiten. [...] Nach einer Zerstörung der Luftwaffe wären wir in der Lage, von der Luft aus die logistische Basis des Irak auszuschalten sowie die Nachschubverbindungen“ usw. Ein Schwachkopf, wer das nicht selbst weiterschreiben kann — so sehr arbeitet der Diskurs automatisch. Aber dieser Diskurs ist der herrschende. Denn auch die sogenannten „Tauben“ operieren in diesem Diskurs: Sie müssen den sogenannten „Falken“ die „sanften“ Normalisierungschancen überzeugend plausibel machen. Wenn das nicht geht, müssen sie sozusagen ihre eigene innere Taube schlachten und den eigenen inneren Falken loslassen.

Wo sind die Alternativen?

Wenn dem so ist, dann läßt sich einiges über mögliche Alternativen sagen: Sie können sich nicht auf Normalität beschränken lassen, wenn sie auch stets im Feld der Normalität operieren müssen. Sie müssen die Eventualität des notständischen Kollapses der Normalität als deren ultima ratio stets mitdenken. Wer sagt eigentlich, daß rechtzeitig ausbrechende Paniken (besonders an den Börsen) nicht die Gewichte im hegemonialen Diskurs zugunsten des Friedens verschieben können?

Die binär verzweigten Szenarios haben den Vorteil, daß wir von uns nicht gewollte Weichenstellungen rechtzeitig erkennen und gegebenenfalls versuchen können, sie zu verlegen. Durch eine Anti-Eskalationserklärung könnten wir hier und jetzt das Befahren dieser Weiche zumindest sehr erschweren: Warum tun wir es nicht? Denn genauso wie der große Volksprotest in Japan gegen analoge Pläne der japanischen Regierung würden solche „Komplikationen“ in Deutschland vermutlich als Gewichte zugunsten der Friedensoption wirksam werden können — bis hin zu den Börsen.

Aber selbst wenn das zu optimistisch wäre, ist eines gewiß: Nur eine öffentliche Debatte über Eskalationslogiken und nur das öffentliche Basteln an Deeskalationsszenarien kann Chancen eröffnen, daß wir uns nicht bald in jener Mischung aus Brave New World und 1984 wiederfinden, von der oben die Rede war. Die Erste Welt als Insel der Normalität mit billigem Öl usw., die Dritte als Hölle, in der es von „Irren“ wimmelt, gegen die ein unerklärter Weltkrieg der dritten Art geführt wird. Mal werden wir gar nichts hören von „da unten“, mal werden die Frühnachrichten melden, daß letzte Nacht wieder ein chirurgischer Schlag geführt werden mußte gegen einen neuen „Irren“ — und wenn wir sterben müssen, werden wir buchstäblich dumm sterben. Jürgen Link

Professor für Diskurstheorie und Mitglied der Bochumer „Initiative für Deeskalation“