Ungarns Obdachlose besetzen Bahnhöfe

■ Interview mit Sandor Rostas, dem Sprecher der „Nationalen Front der Armen“ INTERVIEW

Tausende Obdachlose drohen die Bahnhöfe Ungarns durch Sit-ins zu blockieren, um auf ihre ausweglose Situation aufmerksam zu machen. Sandor Rostas, Sprecher der „Nationalen Front der Armen“, hält seit Mittwoch mit etwa hundert Gleichgesinnten die Empfangshalle des Budapester Bahnhofs Keleti pu besetzt.

taz: Warum diese Aktion?

Sandor Rostas: Seitdem sich Ungarn „demokratisch“ schimpft, gehen die regierenden „Demokraten“ über die Ärmsten der Armen wie über Leichen. Allein in Budapest leben vierzigtausend Obdachlose, im ganzen Land sind es zweihunderttausend. Seit 1967 leb' ich auf der Straße, und ich kann sagen, es wird immer härter für uns „Csöri“, uns „Röhrenbewohner“, wie wir uns selbst nennen. Zweihunderttausend Arbeitslose, davon die Hälfte Jugendliche, sind in einer ausweglosen Situation. Die Preise stiegen in diesem Jahr um sechzig Prozent, die Löhne auf dem Schwarzmarkt fallen ständig. Also können wir nur noch betteln und unsere Stimme erheben. Wir brauchen Wohnraum, um über den Winter zu kommen, wir brauchen Kleidung und Nahrung. Es gibt immer mehr Arbeitslose, aber keine Spur von Sozialhilfe. Aus der Budapester Innenstadt will man uns vertreiben — wegen der Touristen. Aber man bietet uns nichts dafür.

Am Mittwoch hattet ihr doch „hohen Besuch“. Budapests neuer Bürgermeister Gabor Demszky, ehemals bekannter demokratischer Oppositioneller, hat euch doch ärztliche Versorgung und Wohnraum zugesichert...

So steht's vielleicht in der Zeitung. Er kam, sah und ging. Er hätte genausogut zu Hause bleiben können. Nichts verstand er vom Problem Obdachloser. In eine verlassene russische Kaserne in Pestlörincz sollten wir alle einziehen. Alle vierzigtausend? Letzte Woche unternahmen wir einen Versuch, eines der Gebäude zu besetzen. Sofort kam die Polizei, und aufgebrachte „redliche“ Bürger griffen uns mit Messern an, ja so war's. Und hinzukommt, wie es in der Kaserne aussieht, kein Hund möchte darin leben. Wir fordern Sozialhilfen für die Ärmsten, das Recht auf Wohnraum für jeden, ansonsten besetzen wir einen Bahnhof nach dem anderen.

Glaubt ihr, so die Regierung zu Zugeständnissen bewegen zu können?

An die Antall-Regierung glauben wir schon längst nicht mehr. Die soll abtreten. Wir wollen sie in die Knie zwingen. Sie tat nichts, um die unmenschlichen Arbeitsgesetze der Kommunisten aufzuheben. Wer keine Wohnung hat, hat kein Recht auf Arbeit und umgekehrt. Der Teufelskreis ist perfekt. Und dann gab es keine Wiedergutmachung für all die ehemaligen politischen Häftlinge, deren Kinder in Waisenhäuser gesteckt wurden. Roma nahm man früher auch die Kinder weg. Schau dich um, die Hälfte von uns hier stammt aus Waisenhäusern. Mit fünfzehn vor die Tür gesetzt, hatten die nie eine Chance auf ein redliches Leben. Und unter der „Demokratie“ auch nicht. Nur wer Kapital bringt, der darf hier reich werden. Ein paar werden immer reicher, während immer mehr Ungarn hoffnungslos in der Arumt versinken. Und das nennt man dann „Angleichung an den westlichen Lebensstandard“, das nennt man „westliche Demokratie“. Interview: Roland Hofwiler