Die Geburt einer Bürgerbewegung

■ Zwei Millionen Mitglieder haben sich gegen die Atomtests zusammengeschlossen

„Wir haben unsere Lage und unsere Tragödie erst verstanden, als wir zu sterben begannen.“ So beschrieb kürzlich ein Strahlenopfer der sowjetischen Atomversuche in der Unionsrepublik Kasachstan späte Erkenntnisse. Jahrzehntelang war die Bevölkerung im Testgebiet zum Schweigen verurteilt. 700mal detonierten in den vergangenen 40 Jahren Atombomben in der kasachischen Steppe. Bis 1963 führten die Militärs ihre Tests über 100mal oberirdisch durch — und die arglose Bevölkerung ahnte nichts. Die neue Politik Gorbatschows hat möglich gemacht, daß jetzt ansatzweise das Ausmaß der Katastrophe deutlich wird. Erste Untersuchungen der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften haben gezeigt: Die Lebenserwartung in der Region Semipalatinsk ist drastisch zurückgegangen. Doch immer noch weigern sich amtliche Stellen, eine Verbindung zu den Atomversuchen einzuräumen. Eine 1989 gegründete Bürgerbewegung, der sich inzwischen auch die Kommunistische Partei Kasachstans angeschlossen hat, macht Druck.

Eigentlich wollte Olzhas Suleimanov im Juli 1989 eine Wahlkampfrede halten. Doch der kasachische Schriftsteller und Kandidat des Volkskongresses legte sein Manuskript beiseite und hielt statt dessen eine flammende Rede — vor den laufenden Kameras des Sowjetfernsehens — gegen die Atomversuche der Armee. Sein Aufruf zum Teststopp gipfelte in der Feststellung: „Wir dachten, wir seien ein Land des Friedens, aber in Wirklichkeit hat unsere Regierung 40 Jahre lang einen Atomkrieg gegen das eigene Volk geführt.“ 5.000 Menschen folgten am nächsten Tag seinem Appell, eine Bürgerinitiative zur Beendigung von Produktion und Tests von Atomwaffen zu gründen. In den folgenden Wochen unterzeichneten über eine Million Menschen ein Bürgerbegehren mit dem Ziel, die Republik Kasachstan atomwaffenfrei zu machen. Unterstützung erhielten sie auch von den einflußreichen Minenarbeitern der Bergbaustadt Karaganda.

Die Bewegung „Nevada-Semipalatinsk“, deren Vorsitzender Olzhas Suleimanov heute ist und die mit ihrer Namensgebung eine Verbindungslinie zu den US-Atomtests in Nevada ziehen will, zählt nach eigenen Angaben inzwischen zwei Millionen Miglieder. Einen Mitstreiter hatte die Organisation in dem Physiker und Nobelpreisträger Andrej Sacharow gefunden, der selbst maßgeblich an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beteiligt war. Nur wenige Stunden vor seinem überraschenden Tod war Sacharow am 14.Dezember vergangenen Jahres mit Vertretern von Nevada- Semipalatinsk zusammengetroffen und hatte sie gleichsam als Vermächtnis in ihrem Kampf bestärkt.

Das Polygon (Testgebiet) liegt rund 200 Kilometer südwestlich der Millionenmetropole Semipalatinsk und umfaßt ein Territorium von 20.000 Quadratkilometern. Bei den Erkrankungen der BewohnerInnen in unmittelbarer Nähe handelt es sich in erster Linie um verschiedene Krebsarten, um körperliche und geistige Fehlentwicklungen vor allem bei Neugeborenen. Auch genetische Veränderungen sind festzustellen.

Jahrzehntelang nahmen amtliche Stellen keine Notiz von den Opfern. Mit einer Ausnahme: In einer Geheimklinik in Semipalatinsk, dem sogenannten Dispensarium Nr.3, studierten Ärzte und Wissenschaftler die Folgen radioaktiver Verstrahlung. Das Krankenhaus war als Forschungsstätte für Erkrankungen bei Haustieren getarnt. Hier wurden die Opfer der Atomtests nicht medizinisch behandelt, ihr Siechtum wurde lediglich beobachtet. Ärzte, die eine Behandlung der Strahlenopfer versuchten, waren in der Vergangenheit gezwungen worden, Unterlagen zu fälschen, damit die Ursachen der Krankheiten tabu blieben.

Beim Oktoberkongreß der Vereinigung „Ärzte gegen den Atomkrieg“ in Bonn lud die wissenschaftliche Mitarbeiterin von Nevada-Semipalatinsk, Nailia Karamoldayeva, Mediziner aus aller Welt ein, den Opfern in Kasachstan Hilfe zu leisten: „Besonders wichtig für uns ist jetzt, daß die Menschen in der Umgebung des Testgebiets Wiedergutmachungen erhalten und daß Geld bereitgestellt wird für den Bau von modern ausgestatteten Krankenhäusern. Nevada-Semipalatinsk und Parlamentarier des Obersten Sowjets von Kasachstan werden eine unabhängige Kommission schaffen, um die Gesundheitslage der Bevölkerung und die Umweltschäden im Testgebiet zu untersuchen. In unserer Republik ist die Lage äußerst kompliziert. 260 Kinder werden in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Alma Ata in den nächsten ein bis zwei Jahren sterben, weil wir ihre Krankheiten nicht behandeln können. Wir brauchen Ihre Hilfe bald, es ist sehr, sehr dringend.“ Ulrich Stewen

Kontakt: Dr. Bachyt Damitow, Gabelsbergerstraße 2, 1035 Berlin