Mühlsteine und arme Seelen

■ Glanzvolle „Don Carlos“-Premiere im Theater am Goetheplatz: Das Leben ist eine Große Oper

Giuseppe Verdis Musikdrama über Liebe, Leben und Tod am spanischen Hof war mit gut vier Stunden wagnereskem Opernzeitmaß von angemessenem Ernst und Ausmaß für die Wiedereröffnung des Theater am Goetheplatz.

Und natürlich warfen die großen Ereignisse auch hier bereits ihre Schatten voraus: Don Carlos-Darsteller Mihai Zamfir verletzte sich in der Generalprobe so schwer am Fuß, daß er die Heldenpartie nur im Gips hätte singen können. So kam es, daß ein leibhaftiger Spanier in die Rolle des spanischen Infanten schlüpfte: Juan Lloveras, in allerletzter Minute aus Barcelona eingeflogen, kam, sang und siegte. Bevor sich der Vorhang gehoben hatte also schon grande opera.

Die offene Bühne bot hingegen vom ersten Moment an Verdi ohne Pomp. Auch gab es nicht die üblichen Pappmaché-Bäume, keine verkrampft um „natürliche“ Bewegungen bemühte SängerInnen und keine im Pulk vereinte Masse — musikalisch „Chor“, dramaturgisch „Volk“. Verdis Realismus liegt tiefer, und die Inszenierung von Helmut Polixa weiß ihn einzufangen. Es ist nicht allein die intrigenbefrachtete Handlung an höfischen Schauplätzen, die Verdi in Töne gesetzt hat — er hat verschiedene Charaktere gezeichnet. Sie selbst sind es, die alle an ihrem Unglück mitstricken — aus dem Leben gegriffen, die Staatsraison tut da wenig zur Sache. Erst der daraus für alle entstehende Konflikt lag Verdi am Herzen: während es der Bevölkerung am nötigsten mangelt, führt der Adel ein Psycho- Drama auf Volkes Kosten auf.

Polixa folgt dem in seiner Inszenierung konsequent. Der Wald von Fontainebleau, das Klostertor von San Yuste, das Gefängnis und viel anderes höfisches Interieur sind spartanisch streng in zwei riesigen weißen Säulen vereint: elementare neutrale Formen einerseits, Mühlsteine, zwischen denen Seelen zermalmt werden, andererseits.

Die Personen hingegen sind mit akribischer Aufmerksamkeit bedacht worden. Alle SängerInnen dieser Inszenierung tragen nicht ihre Stimme zur Schau (obwohl an diesem Abend bereits das allein ein sinnliches Vergnügen gewesen wäre), sondern handeln mit ihrem Gesang. Elisabeth (Teresa Erbe), einst Carlos' Verlobte und aus politischen Gründen delikaterweise mit dessen Vater Philipp II. (Joshua Hecht) zwangs- verheiratet, wird in ihren Bewegungen, ihrer Kostümierung und nicht zuletzt durch ihre Stimme immer unnahbarer: Die Mutation von weichen, fließenden Formen zu einer schattenhaften Hülle, nach der jubelnd die Hände zu recken so grotesk erscheint wie die spöttischen Töne der Piccoloflöte über den nur scheinbar schönen Melodien. Teresa Erbe folgte dieser Veränderung mit wissend-betörendem Gesang, in den sie ihre Mit- und GegenspielerInnen einband. Und erst im Moment auswegloser Verzweiflung darf sie schlicht die Frau Elisabeth sein.

So werden die Ensembleauftritte nicht zur qualvollen Rampensteherei: Hier stehen, knien, liegen und leiden Menschen — nicht nur weil es Partitur und Libretto vorschreiben. Und der Chor ist hier in seinen mumienartigen Gewändern auf bedrückende Weise präsent. Es ist die Zerrissenheit eines Volkes, das zwischen Jubel und Verzweiflung nicht mehr unterscheiden kann. Ulrike Brenning