“Wir waren doch alle Todeskandidaten“

■ Tag der offenen Tür: Anonyme Alkoholiker informierten über ihre Arbeit/ „Eine Möglichkeit neu zu beginnen“

Als er zum ersten Mal zu den Anonymen Alkoholikern (AA) kam, glaubte er, bei ihm sei es doch eigentlich noch gar nicht so schlimm. Denn unter einem Alkoholiker hatte er sich immer einen Penner am Bremer Bahnhof vorgestellt. Gleich nach dem Treffen, zu dem ihn ein Verwandter geschickt hatte, ging er wieder in die Kneipe.

Später, nachdem seine Frau gestorben war, verlor er den letzten Halt. Ein Selbstmordversuch scheiterte. Mit Chefs und Kollegen kam er schon lange nicht mehr zurecht. Durch häufigen Arbeitsplatzwechsel rutschte er die soziale Leiter immer tiefer herunter. Bis ihm ein Werkarzt seines Betriebes ohne Umschweife sagte: „Entweder Sie hören auf zu trinken, oder nach zwei Jahren ist es endgültig aus!“

Alfred ging nach einem Klinikaufenthalt zum zweiten Mal zu den AA. Diesmal hatte er den festen Vorsatz sich als Alkoholiker zu bekennen. „Da hörte ich dann zum ersten Mal, daß Alkoholismus eine Krankheit ist und ich wurde wegen meines Trinkens nicht ausgeschimpft“, erinnert er sich. Und — er ist bei der AA geblieben. Zwölf Jahre liegt das zurück.

Seine Begründung: „Ich bin bei den AA geblieben, weil es da Wärme gibt und Menschen, die mir zuhören wenn ich meine Qual rausschreie.“ Inzwischen gibt er seine Erfahrungen an Frauen und Männer weiter, die es noch nicht geschafft haben „trocken“ zu werden.

Kennengelernt habe ich Alfred durch die „Tage der offenen Tür“ (2. und 3.November), bei denen langjährige Mitglieder informierten, von ihrem Weg zu einem Leben ohne Alkohol berichteten und ihr „Lebenskonzept“ vorstellten. „Auch wenn sich in solchen Tagen nur zwei Hilfesuchende melden, hat sich die Mühe gelohnt“, sagt Robert. Seit zehn Jahren dabei, macht auch er inzwischen ehrenamtlichen „Dienst“. Dazu gehört unter anderem das Organisieren von Meetings, Verbreiten von Informationen, Hilfsangebote in Kliniken und Jugendstrafanstalten sowie das Herausgeben von Zeitungen und Büroarbeit. Getragen wird die Organisation vor allem durch Mitgliederspenden, damit, wie es in der Präambel heißt, „uns nicht Geld-, Besitz-und Prestigeprobleme von unserem eigentichen Zweck ablenken.“

In Bremen existieren seit 24 Jahren etwa 70 Gruppen der AA (mit Umland 136), in denen sich durchschnittlich 20 Alkoholiker treffen — manchmal jeden Tag. Was sie von anderen Organisationen unterscheidet, ist ihr „12 Schritte“ Lebenskonzept, in dem bestimmte Regeln vorgeschlagen werden. Voraussetzung für die Mitarbeit in den Gruppen ist der erste Schritt: 'Wir gaben zu, daß wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind — und unser Leben nicht mehr meistern können–.

Der Glaube an eine höhere Macht, an Gott, „wie ihn jeder versteht“, spielt ebenfalls eine große Rolle bei den AA. Nur so, meinen die Mitglieder, könne der Alkoholiker sich selbst und das Leben wieder als lebenswert empfinden. „Trocken zu werden bei den AA geht nicht ohne Glauben“, erklärt Peter, der es vor sieben Jahren mit Hilfe der Gruppe geschafft hat, sich selbst aus der Gosse zu ziehen. „Wir waren doch alles Todeskandidaten“, sagt er, „und als ich noch einmal die Möglichkeit erhielt, neu zu beginnen, habe ich auch meinen Glauben zu Gott wiedergefunden.“

Doch um einen bestimmten Glauben geht es offensichtlich nicht. Buddisten, Moslems und Christen können Erfahrungen austauschen, ohne dabei ihre eigenen Glaubensvorstellungen aufzugeben. Wichtig ist, überhaupt wieder an etwas zu glauben. Denn darin sind sie sich alle einig: Wer nicht mehr an sich selbst glauben kann, braucht eine neue Orientierung.

„Als ich damals hierher kam, habe ich einfach alles geglaubt, was man mir erzählt hat“, erzählt Peter. „Das hat mir geholfen, mein verworrenes Denken und Fühlen zurechtzurücken.“ Birgit Ziegenhagen