Zwischen Revival und Widerstand

■ Fast zweitausend kamen zur Veranstaltung »4. November...Nicht vergessen« ins Haus der Jungen Talente/ Europäisches Bürgerforum erinnerte an den vergangenen Herbst/ Suche an »Runden Tischen« nach Perspektiven für ein neues Europa

Mitte. Seit dem frühen Sonntag nachmittag begehrt eine nicht kürzer werdende Schlange vor den Haus der Jungen Talente Einlaß. Fast zweitausend Menschen kamen in die Klosterstraße zu einem internationalen Volksfest, das das Europäische Bürgerforum zur Erinnerung an den 4. November und zum gemeinsamen Nachdenken über neue europäische Perspektiven initiiert hat.

Mit einem Videofilm von der Protestdemonstration für Presse- und Versammlungsfreiheit zur Eröffnung des Treffens wurde noch einmal die Aufbruchstimmung des vergangenen Novembers in den Saal getragen. Draußen auf den Fluren lagen die Ereignisse des letzten Herbstes als Bücher auf den Verkaufsständen. Sogar die gelben Schärpen mit der grünen Forderung Keine Gewalt — das Zeichen für friedliches Demonstrieren — konnte man entdecken. Für die Rocksängerin Tamara Danz, damals Mitorganisatorin der Demo, ist das alles so weit weg, als wäre es vor hundert Jahren gewesen, sagte sie gegenüber der taz. »Heute ist doch alles dasselbe in grün. Wir sind damals für Pressefreiheit auf die Straße gegangen, und jetzt sind die Medien doch wieder nur Werkzeug der Herrschenden, nur viel diffiziler. Ich bin erschüttert, wie viele den Wahlkampagnen noch auf den Leim gehen.« Viele kamen gestern aber nicht nur, um dem vergangenen Herbst nachzutrauern, sondern um sich Gedanken über heute realisierbare Alternativen zu machen. An sechs Runden Tischen beschäftigten sich Teilnehmer aus vielen europäischen Ländern mit den Themen Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Energie und Umwelt, Erziehung, Medien und Kultur. Sie berichteten am Nachmittag über die Ergebnisse ihrer Gespräche. Für viele Teilnehmer aus der ehemaligen DDR war es seit langem eine neue Erfahrung, »daß sich hier Westeuropäer nicht nur für uns interessieren, sondern auch für uns engagieren. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl von etwas Europäischem«, sagte der Lehrer Jörg Holter über seine Arbeit am Runden Tisch Erziehung. Das wichtigste, so war beinahe von allen RednerInnen zu hören, sei jetzt, selbst die Initiative zu ergreifen. Es reiche nicht zu beklagen, daß man die Entwicklung so nicht gewollt habe. Viele hätten vergessen, daß man als Bürger aktiv werden kann, so Kabarettistin Gisela Oechelhäuser.

Das Europäische Bürgerforum könnte eine Form dafür sein. Aus der '68er Bewegung in Südfrankreich entstanden, arbeiten hier engagierte Leute zusammen, die mit verschiedenen Projekten, wie zum Beispiel dem Komitee zur Verteidigung von Flüchtlingen und Gastarbeitern in Europa oder Aktionen zur Rettung der Bergregionen, auf sich aufmerksam machten. Hier solle die Basis, die Bürger Europas zusammenkommen, damit aus Europa etwas anderes wird als ein einziger großer Markt, berichtet Jürgen Holzapfel, einer der Mitinitiatoren.

Das Treffen war auch ein Lehrstück in Demokratie. Es wäre, als würden hier viele erst begreifen, was Kapitalismus ist und wie man sich dagegen wehrt, meinte einer der Besucher. Erinnerung und Widerstand- Lernen an einem Tag. »Wir sind damals gegen den Strom geschwommen mit großer Angst«, mahnte Pfarrer Friedrich Schorlemmer, »jetzt erfordert es mehr Geschick.«

Am Abend dann, nach Redaktionsschluß, diskutierten Christa Wolf, Stefan Heym, Danil Granin sowie Friedrich Schorlemer und Otelo de Carvalho, einer der Führer der portugiesischen Revolution, Zur Lage der Nation. anbau