Hans Zenders „Welttheater“

■ Hans Zenders Oper „Stephen Climax“ am ThéÛtre de la Monnaie in Brüssel

Hans Zender, der international renommierte Dirigent und Promoter der Moderne, arbeitet gegenwärtig an seiner zweiten Oper, die an der Hamburgischen Staatsoper herauskommen soll. Seine erste hinterließ 1986 bei der Uraufführung in Frankfurt einen zwiespältigen Eindruck: Als sperriges Werk erschien das Doppelstück Stephen Climax, halb — mit Textfragmenten nach dem James-Joyce- Roman Ulysses — einem Kulturobjekt der Moderne zugewandt, halb auf die Mönchs- und Einsiedlerwelt am Anfang des christlichen Zeitalters orientiert. Unverbunden standen sich in der ersten Inszenierung der Oper die beiden Handlungsebenen gegenüber, und die vielfältigen Motive wurden damals von Alfred Kirchner & Co. zu einem großen bunten Abend genutzt.

Zenders Komposition verrät die Kenntnis vieler Partituren des 20.Jahrhunderts. Bernd Alois Zimmermanns Soldaten standen erkennbar Pate, aber auch der Bezug zu Alban Bergs Lulu wird deutlich — und viele Zitate funkeln aus dem Kontinuum der Stephen-Climax-Partitur. Es ging mit ihr nicht darum, „einen eigenen Stil zu finden oder einen ganz typischen Ausdrucksbereich“, meinte der Komponist, denn „man müßte den falschen Individualismus in sich selbst zu überwinden suchen“. In solchem Bekenntnis liegt bereits die Begründung für das Heraufbeschwören des Säulenheiligen in der syrischen Wüste, dieses Gegenbildes aus dem fünften Jahrhundert zum Dublin des Meisters Joyce vom Anfang des 20.Jahrhunderts: Askese, Bußruf, Heilsversprechen contra ausschweifendes Leben, Ratlosigkeit, Autorennöte.

„Zu einem bestimmten Zeitpunkt“, erläuterte Hans Zender, sei Stephen, die Hauptfigur, „aus der Literatur herausgehüpft und eine Figur meines eigenen Inneren geworden.“ Sie tritt auf der Bühne und im Kontext der kunstfertig konstruierten und zusammengemischten Musik ein neues, eigenes Leben an. Dabei sei (und ist) es unerheblich, ob das von hoher Warte aus zur Schau gestellte Bewußtsein des Eremiten Simeon (aus den Acta Sanctorum) nun eher ein theatralisches Gegenmodell zum labilen Leben des genialischen jungen Literaten aus Irland ist oder als „Projektion aus Stephens Innerem“ genommen werden soll.

Peter Mussbach, Regisseur der Neuinszenierung am ThèÛtre Royal de la Monnaie in Brüssel, neigte zu letzterem. Gestützt auf die Ausstattung von Paul Lerchbaumer und Joachim Herzog wurde das reduzierte Leben in der syrischen Wüste von einst und das mäßig wüste Nachtleben als erstaunliche Nachbarschaft vorgeführt: Von den Lebedamen der Jahrhundertwende zu den alten Mönchen sind es nur ein paar Schritte. Die beiden Kreissegmente, in deren Mitte sich Simeons Gerüst erhebt, deuten die Einöde an und müssen dem Sängerensemble für die Darstellung der Ereignisse in der Nacht vom 16. zum 17.Juni 1904 dienen.

Es geht. In Ermangelung von Requisiten sind die Darsteller auf eine gezielte Gestik, auf ihre Körpersprache angewiesen. Sie können sich auf keine Klostermauer stützen und an keine Laterne lehnen. Bella Cohens Puff mit Prunktapete und Lüster wurde weggekürzt, nur das Bordellklavier ragt zeitweise schräg in den Raum. Die vier „Blechbläser wie Erzengel“, die das Traumbild des Propheten Elias begleiten, sind entfallen und auch die Kostüme weichen von den detaillierten Angaben im Libretto erheblich ab. Nur überdimensionale Äpfel finden sich zur Belebung des kargen Bühnenbildes ein — Symbole weiblicher Verführungsmacht. Einmal wird die papierne Schale eines solchen Apfels, um den die drei Huren wie Maden um den Speck kriechen, mit aggressiver Lust durchstoßen.

Die divergierenden Motive des Textgemenges, die Kontraste von Szenarium und Musik erfahren auf Mussbachs Inszenierungsweg Vereinheitlichung: dieses „Welttheater“, in dem von den ordinären Männerbedürfnissen bis zur Verkündigung der höchsten Gnade, von der Grasnarbe der Kleinkunst bis zu Anrufung der Weltliteratur, vom Quälgeist der Kinder bis zum operettenhaften Abstecher des Kirchenfürsten Borgia, vom Suff bis zum Kater, von der tiefen Ratlosigkeit bis zur postmodernen Sinnsuche alles versammelt ist, was die moderne Welt so im privaten Bereich bewegen kann.

Bewegt wurde die Brüsseler Aufführung vor allem durch den Dirigenten Sylvian Cambreling, dessen energischer Gestaltungswille und Präzison das Aufblühen der einzelnen Episoden hervorlockt. Die der Vielfalt der literarischen Motive entsprechenden musikalischen Anspielungen wurden locker freigespielt — sie reichen bis zur frühbarocken Pracht zurück und (ironisch getönt) vom Neobarock bis zu Philip Glass, von der trivialen Melodie des Großvaters bis zur Flötenakrobatik des Gabriel Fauré, vom Psalmodieren bis zum Bar-Piano des Variétés. Solche Steigerung der Zitierkunst verschafft dem Stück ausgesprochen kurzweilige Züge, auch wenn die am Schluß emphatisch applaudierenden Brüsseler zwischenzeitlich schläfrig wurden. Man ahnte, daß man es mit einer brillanten Realisierung eines der wichtigen Werke des Musiktheaters der achtziger Jahre zu tun hatte. Auf Zenders neue Oper darf man gespannt sein. Frieder Reininghaus