KOMMENTAR
: Die letzten Tage des V.P. Singh

■ Das indische Parlament stimmt über das Schicksal seiner Regierungskoalition ab

Die Amtszeit V.P. Singhs als indischer Premierminister neigt sich nach ziemlich genau einem Jahr ihrem Ende. Die schwerste Krise Indiens seit seiner Unabhängigkeit hat der adlige Rajput aus dem Bundesstaat Uttar Pradesch, derzeit Schauplatz des unsäglichen Streits zwischen fundamentalistischen Hindus und Moslems um Hindutempel oder Moschee, nicht in den Griff bekommen. Einen weiteren, die indische Gesellschaft offensichtlich zusätzlich spaltenden Konflikt hat er zudem vor einigen Wochen selbst vom Zaume gebrochen: Mit seiner Ankündigung, die Ergebnisse der sogenannten Mandal-Kommission umzusetzen und den in Indien als „rückständig“ geltenden Kastengruppierungen Quoten für Regierungsjobs einzuräumen, hat sich der Premier vor allem bei Indiens einflußreicher Mittelschicht und den Angehörigen der sogenannten forward casts unbeliebt gemacht.

Zugegebenermaßen: die Ausgangsbedingungen für V.P. Singh in einem Indien, das nicht mehr das von Gandhi und Nehru ist, waren denkbar ungünstig, weil ihm Rajiv Gandhi und seine Mutter Indira ein schwieriges Erbe hinterließen. In den Bundesstaaten Punjab und Kaschmir zeichnet sich nach wie vor keine Lösung ab. Im östlichen Assam brennt es lichterloh. Zunehmende ethnische und religiöse Konflikte, gepaart mit wachsender Verarmung der Massen, einer steigenden Auslandsverschuldung, die schon über 100 Milliarden ausmacht, und dem Zerfall der politischen Kultur, machen die Lage so explosiv wie nie zuvor.

War es vor den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr Singhs Verdienst, die bis dahin gespaltene Opposition en Block gegen die Congress-Partei Gandhis zu stellen, so entwickelt sich jetzt dieses breite Bündnis zur politischen Achillesverse des Premiers. Weil Singhs Janata Dal nur über 144 der insgesamt 543 Sitze im indischen Parlament verfügt, war er auf die Stimmen der Kommunisten und die Unterstützung durch die hinduchauvinistische Bharatiya Janata Party (BJP) angewiesen, die ihm jetzt wegen der von ihr mitinitiierten Agitationen gegen die Moschee in Ayodhya die weitere Gefolgschaft verweigert. Komplettiert wird Singhs politische Demontage nun auch durch den Rückzug führender Politiker seiner eigenen Partei.

Wie geht es in Indien weiter? Der vor einigen Monaten von V.P. Singh entlassene ehemalige Vizepremier Devi Lal ist als Nachfolger genauso im Gespräch wie der ambitionierte Chandra Shekhar, der am liebsten schon vor einem Jahr Premier geworden wäre. Gute Chancen kann sich auch Rajiv Gandhi ausrechnen, dessen Congress-Partei mit 192 Sitzen nach wie vor stärkste Oppositionspartei ist. Sollte Singh zurücktreten, obliegt es Staatspräsident Venkataraman, einen neuen Regierungschef zu bestimmen oder aber Neuwahlen auszurufen. Diese wären in der derzeit aufgeheizten Athmosphäre allerdings keine gute Lösung. Walter Keller