Rumäniens politische Fronten verwischen sich

Seit den Preiserhöhungen vom 1. November wird in Bukarests Straßen wieder demonstriert/ Die Oppositionsparteien zögern, sich an die Spitze dieser Protestbewegung zu setzen/ Nationalistische Demagogie beginnt, das politische Vakuum zu füllen  ■ Aus Bukarest Erich Rathfelder

Auf dem Platz vor der Universität in Bukarest versammeln sich allabendlich wieder Tausende, um gegen die Politik der Regierung zu demonstrieren. Und wie im April und Mai dieses Jahres, als in den Wochen vor der Wahl dieser Platz zur Schule der Demokratie wurde, wo jeder und jede reden und Proklamationen „ins Volk bringen“ konnte, rufen die Demonstranten ihre Parolen wieder in Richtung des Intercontinental-Hotels am Ende des Platzes, in der Hoffnung, die dort versammelte Presse würde ihre Parolen in der ganzen Welt verbreiten. „Nieder mit dem Kommunismus“ oder „Nieder mit Iliescu“, schallte es auch diesmal über den Platz, doch anders als damals fordern die Demonstranten heute nicht an erster Stelle die Demokratisierung des Systems. Ihnen geht es zuallererst um die Rücknahme der am 1.November in Kraft getretenen Preissteigerungen. Denn die Regierung hat begonnen, mit der Wirtschaftsreform ernst zu machen. In einer ersten Stufe der Verwirklichung des Planes sollen die Preise den wirklichen Produktionskosten angeglichen werden. Davon sind auch die Grundnahrungsmittel betroffen. Die Preise für Backwaren sind auf das Dreifache angehoben, Schuhe kosten schon um die 1.000 Lei, ein Pfund Tomaten ist unter 30 Lei auf dem Markt nicht zu erhalten: und das alles bei Löhnen von um die 3.000 Lei im Monat. Kein Wunder also, daß der Unmut steigt. „Wir sollen nur 750 Lei Ausgleich für die Teuerungen zum Lohn hinzubekommen“, sagt eine junge Verkäuferin, die mitdemonstriert. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich weiterleben soll.“ Die Mienen der Menschen auf dem Platz sind verbittert. Im Unterschied zu den DemonstrantInnen vor einigen Monaten, als die hauptstädtische Mittelschicht und die Studenten den Ton angaben, sind es jetzt vor allem ArbeiterInnen, die ihren Unmut auf die Straße tragen. Sie haben keine Organisation: Weder sind große Transparente zu sehen noch steht die Verstärkeranlage, die einstmals vom ersten Stock der Universität aus den Platz beschallte, zur Verfügung. So erscheint der Protest eher hilflos; die vormals aktiven Organisationen haben sich bisher nicht eingemischt, vor allem auch die im Frühsommer tonangebende „Liga der Studenten“ taucht bei den derzeitigen Protesten nicht auf.

„Die Menschen sind auf die Preissteigerungen nicht vorbereitet“, erklärt Marian Munteanu gegenüber der taz; der Studentenführer wurde im Juni von den Iliescu unterstützenden Bergarbeitern fast zu Tode geprügelt. Die radikale Opposition zur herrschenden Macht sei nicht gegen Reformen, sagt er. Ihre Kritik zielt lediglich auf die mangelnde Öffentlichkeit. Die heute Demonstrierenden stehen hingegen in dem Widerspruch, einerseits gegen den Kommunismus aufzutreten und andererseits gegen die ersten auf die Einführung des Kapitalismus zielenden Reformen zu sein.

Im nahe gelegenen Büro der Liberalen Partei weist deren Vorsitzender Radu Campeanu ebenfalls auf die mangelnde Offenheit und öffentliche Diskussion hin. Die Partei und er selbst träten für wirtschaftliche Reformen ein, seien aber „gegen diese sogenannte Reform“. Die Privatisierungen seien bisher nicht vorangekommen, die Warenproduktion stagniere, es stünde der Nachfrage kein Angebot gegenüber. „Diese Demonstrationen werden sich über das ganze Land ausbreiten, weil sie berechtigt sind. Die Maßnahmen führen zu einer weiteren Verelendung der Menschen.“ Die Regierung habe praktisch alles falsch gemacht; sie habe weder die Privatinitiative gefördert noch das Problem der Bodenreform angepackt.

Noch halten sich also die Opponenten der Regierung aus den politischen Parteien zurück. Für sie ist es ja nicht leicht, einerseits für radikalere Wirtschaftsreformen einzutreten und andererseits die „alten Vorstellungen der kommunistischen Gleichmacherei“ — wie dies ein rumänischer Journalist ausdrückte — bei den Demonstranten zu befördern.

Die Diskussion um die Preissteigerungen umreißt vielleicht klarer als andere Ereignisse der letzten Wochen und Tage die innenpolitische Situation in einem Land, das auch fast ein Jahr nach der Ceausescu-Ära sein politisches Gleichgewicht noch nicht gefunden hat. Regierung und Opposition tun sich schwer, ihre Rolle in einer Situation des Umbruchs zu definieren. Doch die Gefahren einer Ausnutzung der jetzigen Lage durch nationalistische Demagogen wächst.

Angesichts der nationalistischen Welle, die von den Gesellschaften „Pro Bessarabien“ und „Bukarest- Kischinow“ kräftig gefördert werden, beginnen sich sogar die bisher bestehenden politischen Grenzlinien zu verwischen. Schon haben die DemonstrantInnen nach der Wiedervereinigung mit Bessarabien, d.h. mit der sowjetischen Moldaurepublik, gerufen. Und es steht zu befürchten, daß der soziale Protest in eine nationalistische Bewegung umgeleitet wird. Der Konflikt um Bessarabien, der Traum von einem wiedervereinigten Großrumänien, hat schon begonnen, eine politische Debatte zu überlagern, die bisher vor allem um die innere Demokratisierung und das Anpacken der Reformen ging. Ein Abgeordneter der herrschenden und die Regierung tragenden „Front zur Nationalen Rettung“ kritisierte Ministerpräsident Roman und seinen Außenminister Nastase im Parlament letzte Woche sogar dahingehend, anstatt Gespräche über ökologische Probleme mit Bulgarien zu führen, sollte die Regierung sich auf die „Seite des eigenen Blutes“ stellen. Gemeint war die Mobilisierung der Rumänen in Bessarabien: Die Fernsehbilder vom Einmarsch der 20.000 bewaffneten Milizionäre in das von Russen bewohnte Gebiet Transnistrien und in die Gebiete der Gagausen fangen an, eine Brücke zwischen den innenpolitischen Kontrahenten zu schlagen. Noch zögert die Regierung auch aus außenpolitischen Rücksichten gegenüber der Sowjetunion und Gorbatschow, auf der nationalistischen Welle mitzuschwimmen. Doch die Vereinigungsbewegung entwickelt, das bezweifeln auch nicht die kritischen Intellektuellen des „Sozialen Dialogs“, eine Sogwirkung. Als der moldavische Nationaldichter Grigore Vieru im Fernsehen den „Verrat der Gagausen an den Rumänen“ brandmarkte und den Willen zum harten Durchgreifen gegen die Minderheiten erkennen ließ, konnte er sich des Beifalls aller Rumänen gewiß sein — auch von den DemonstrantInnen auf dem Platz vor der Universität.