Rotarmisten an der Kartoffelfront

■ Moderne Zeiten: Sowjetsoldaten verladen im Hamburger Hafen Kartoffeln für die Heimat

Hamburg (taz) — Die Bewohner der besetzten Häuser an Hamburgs Hafenrand hatten stets gedroht: „Wenn ihr uns räumt, holen wir die Russen.“ Heute sollen die Russen tatsächlich kommen. Die 100 Rotarmisten werden zwar nicht zur Verteidigung der Hafenstraßen-Häuser anrücken, wohl aber zum Hafen marschieren. Dort sollen Gorbis Soldaten nämlich Kartoffelsäcke schleppen, die seit zwei Wochen an den Kais herumliegen und auf ihre Verschiffung nach Leningrad warten.

Bei dem Berg von rund 60.000 Tonnen Erdäpfeln handelt es sich gewissermaßen um eine Altlast. Die de-Maizière-Regierung der Ex- DDR hatte der Sowjetunion die Lieferung von insgesamt 700.000 Tonnen Kartoffeln in diesem Jahr zugesagt. Die Ostseehäfen waren mit dieser Menge jedoch restlos überfordert, weshalb die Hamburger Gesamthafenbetriebsgesellschaft (GHB) die Verschiffung von 105.000 Tonnen übernahm. Doch die GHB übernahm sich mit diesem Kartoffel-Volumen. Die benötigten 1.000 Kurzzeitarbeitskräfte konnten nicht aufgetrieben werden. Für rund zehn Mark die Stunde wollte sich kaum jemand an den 100 Kilogramm schweren Säcken versuchen. Der Logik der Marktwirtschaft mochte die GHB trotzdem nicht folgen. Statt die Löhne zu erhöhen, rief sie nach Soldaten, vorerst Bundeswehrsoldaten.

Damit befand sie sich allerdings in vollem Einklang mit der öffentlichen und veröffentlichten Meinung. Daß vor ihrer Haustüre Kartoffeln verrotten sollen, statt den Tisch der gerade liebgewonnenen Russen zu decken, das beschämte die HanseatInnen und ihre Zeitungen. Der Versuch, die Bundeswehr einzuschalten, stieß auf breite Zustimmung. Dort hatte man allerdings berechtigterweise Angst, als Lohndrücker oder potentieller Streikbrecher angesehen zu werden. Ein Bundeswehreinsatz sei nur im Rahmen „humanitärer Hilfe“ möglich, hieß es aus dem Verteidigungsministerium, und darüber müsse das Auswärtige Amt (AA) entscheiden. Auf Bitten der GHB wandte sich die Hamburger Wirtschaftsbehörde also an das AA.

Im Genscher-Haus wiederum war man nicht bereit, die Marktwirtschaft leichtfertig zu opfern. Da es sich bei dem Kartoffeltransport um ein Geschäft handele und nicht um eine Hilfsaktion, überwiege der „kommerzielle Aspekt“ die „humanitären Erwägungen“, hieß es aus Bonn. Zwar gebe es in der Sowjetunion Versorgungsengpässe, jedoch keine Notstandssituation, die den Einsatz von Bundeswehrsoldaten rechtfertigen würde. Man könne sich über das Thema noch einmal unterhalten, wenn Hamburg für seinen Hafen den Notstand ausrufe, so die Kenner von Angebot und Nachfrage. Eine derart imageschädigende Entscheidung jedoch wollte in Hamburg selbstverständlich niemand treffen.

So besann man sich bei der GHB der Tatsache, daß Rotarmisten auch schon in Rostock den Rücken gekrümmt hatten. Die Russen willigten ein, und da der Einsatz der Soldaten lediglich an der Kartoffel-Front erfolgt, verstoße der Vormarsch nach Westen nicht gegen den Vertrag über den Truppenabzug, sagen ExpertInnen. Wenn heute also die Rote Armee die Elbe überschreitet, ist das nicht mehr die Verwirklichung einer Schreckensvision. Die HamburgerInnen werden keine spitzen Entsetzensschreie ausstoßen, sondern allenfalls ein wenig beschämt sein. Die Bundeswehr behält ihre tarifpolitisch weiße Weste, und die HafensträßlerInnen erhalten die Gelegenheit, sich von der körperlichen Verfassung ihrer potentiellen Verteidiger zu überzeugen. Kai Fabig